Die Frau meines Vaters. Anja Röhl
Kind Angst macht. Wenn der Vater gute Laune hat, dann schwärmt er, lacht, singt und tanzt, er tobt, er läuft, er kann wie ein Kind sein. Aber wenn er wütend ist, und er wird schnell wütend, dann redet er schlecht über alle.
Die Worte des Vaters klingen dem Kind immer wieder in den Ohren. »Es ist wie ein Sport«, erklärt der Vater, »eine Frau ins Bett zu bekommen ist das Größte, danach muss man sehen, wie man sie wieder loswird. Es geht ums Erobern, das Erobern macht am meisten Spaß.« Da im Bett macht man dann etwas, das nennt der Vater dingsen, seine Stimme klingt geheimnisvoll. Sie ziehen sich aus und gehen unter eine gemeinsame Decke. Dem Kind tun die Frauen leid, die der Vater schnell wieder loswerden will.
Der Vater schläft schlecht, er braucht viele Tabletten, um einzuschlafen, eine ganze Packung liegt immer auf seinem Nachttisch, wenn sie zusammen verreisen, neben Ohropax und einer dunklen Binde für die Augen.
Wenn der Vater wütend ist, weil ihm was schiefgegangen ist oder weil man was Falsches gesagt hat, ihn gestört hat, ihn morgens zu früh geweckt hat, zu langsam gelaufen ist, dann kann er gemein sein, dann muss man still sein, nichts sagen. Kurz darauf hat er wieder gute Laune, dann ist das vergessen, dann ist er nett und lustig, als wäre nichts gewesen.
Manchmal tobt der Vater auch bei Tisch herum und brüllt von Tischsitten, während ihm selbst das Essen aufs Hemd kleckert. Man muss gerade sitzen und wird drohend angeschaut, wie man die Löffel hält und die Kartoffeln zerdrückt. Das Kind traut sich dann weder zu reden noch zu lachen, es fühlt sich klein.
Eine geschiedene Frau besucht man nicht, sagt die Mutter. Deshalb muss sie rausgehen, wenn sie jemanden treffen will. Zu Hause lebt nur das Kind. Das Leben mit einem Kind ist anstrengend, deshalb sucht die Mutter wieder nach einem Mann. Eine Frau braucht einen Mann, sagt sie, nur dann nimmt man sie ernst. Im Urlaub, wenn da Männer sind, freut sich die Mutter, doch hat sie immer Sorge, ob sie auch hübsch genug aussieht, sie zupft sich die Haare zurecht, schaut sich im Glas an, schminkt sich im Handspiegel. Oft fragt sie das Kind, ob sie hübsch genug aussähe. Na klar, sagt das Kind, weil es die Mutter hübsch findet.
Manchmal macht der Vater einen Ausflug mit dem Kind. Wenn sie gemeinsam Auto fahren, freut sich das Kind, und der Vater freut sich auch, und dabei haut er es gern so ein bisschen zur Begrüßung, er nennt das batschen. Es sind kleine Schläge auf die Wangen und die Oberschenkel. Er mag das gern, aber das Kind nicht, weil er es immer doller macht. »Das kann doch gar nicht weh tun«, behauptet der Vater. Tut es aber. Dabei sagt er, dass sie so eine schöne Haut habe, sie solle immer auf ihre Haut achten. »Haut heißt Haut, weil man darauf haut«, sagt er und lacht. Nur die Haut von Babys sei richtig weich, die sei das Sinnlichste, was er kenne. Nur bis zum 13. Lebensjahr sei die Haut wirklich schön.
»Hat deine Mutter einen Freund?«, fragt der Vater plötzlich. »Ich weiß nicht«, sagt das Kind. Die Mutter geht oft abends weg, da hat sie vielleicht einen Freund. Das Kind mag nicht, dass der Vater das fragt. »Deine Mutter hat einen neuen Freund, ich weiß es«, sagt der Vater. »Deine Mutter ist eine Schlampe, sie taut nie den Kühlschrank ab und sie geht mit jedem ins Bett.« Das Kind versucht wegzuhören, wenn der Vater schlecht über die Mutter redet. Es ist, als sei die Mutter da und höre heimlich zu, ob das Kind sie auch verteidigt. Aber das Kind sagt nichts, sondern wartet nur, bis der Vater das Thema wechselt. Zu Hause sagt das Kind zur Mutter, sie solle den Kühlschrank mal wieder abtauen. Das kommt einfach aus dem Mund. Ja, denkt das Kind, sie hat wohl einen Freund. Aber ich soll ihn nicht kennenlernen. Sie hat vor mir Heimlichkeiten. Das Kind fühlt sich ausgeschlossen, denn die Mutter will mit dem Freund in Ruhe gelassen werden. Die Mutter hat vielleicht Angst, dass der Freund sonst wieder geht.
Die Mutter erklärt dem Kind, dass sie alles anders machen wolle, als sie selbst es erlebt hatte. Ihre Eltern seien streng gewesen, sie hätten ihr viel verboten. Einmal habe man sie zu zweit festhalten müssen, so hätte sie geschrien und gezappelt, als man ihr Spinat einfütterte. Das alles wollte sie mit ihrem Kind anders machen.
Kommt die Mutter abends nach Hause, freut sich das Kind. Doch die Mutter sagt dann oft, geh mal kurz raus, ich muss telefonieren. Sie macht dann eine Handbewegung, geh in dein Zimmer, spielen. Wenn die Tanten da sind, freut sich das Kind, doch die Mutter muss viel allein mit ihnen sprechen, sie ziehen sich ins Wohnzimmer zurück und tun geheimnisvoll, und manchmal hört das Kind die Mutter weinen. Durch die Wand hört das Kind ihre aufgeregten Stimmen. Vielleicht hat sie einen Freund, mit dem sie Probleme hat, denkt das Kind. Wenn ich jetzt einen Bruder hätte, dann wären wir zu zweit.
Der Vater verspricht für mittwochs immer ganz viel, dass sie zusammen wegfahren, in den Wald, an den Strand, dass sie in die Harburger Berge fahren oder nach Travemünde. Doch er kommt noch immer viel später, als er versprochen hat, weil er in der Firma zu tun hat. Manchmal kommt er einfach nicht. Es ist anstrengend zu warten, die Zeit vergeht nicht. Abends ruft er an, dass er es leider nicht geschafft hat. Das Kind hat die ganze Zeit über am Fenster gesessen und nach ihm Ausschau gehalten. Wenn er anruft, dass er nicht mehr kommt, ist die Mutter sauer. Doch das Kind ist erleichtert. Das Warten ist schlimmer. Das Kind hasst das Warten. Jeden Tag auf die Mutter, abends oder nachts, dass sie endlich kommt, oder nachmittags am U-Bahnhof Dehnhaide. Da kommen andere Leute, und alle Leute schaut das Kind schon von weit weg genau an, ob es vielleicht die Mutter, der Vater ist, aber es sind andere. Und doch kann das Kind nicht aufhören, auf die Straße oder den Bahnhof zu schauen. Das Kind schaut auch auf die Uhr, am Bahnhof und im Wohnzimmer. Die Zeiger gehen langsam von Sekunde zu Sekunde und das Kind starrt darauf, wie sie nicht vorrücken wollen. Es hat immer Angst, den glücklichen Moment zu verpassen, wo es die Mutter oder den Vater von Weitem sehen kann.
Das Kind kümmert sich gern um andere. Dem Nachbarsjungen, der immer geschlagen wird, sagt es, er soll fragen, warum. Doch der meint, das nütze nichts. Der Zahnarzt verprügelt jeden Abend seine Kinder. Wir müssen da rübergehen, der darf doch nicht dauernd seine Kinder verprügeln, denkt das Kind. Doch niemand traut sich zu dem Zahnarzt hoch.
Das Kind hört die Erwachsenen vom Krieg zwischen Indien und Pakistan reden. Es weiß nicht, wo Indien und Pakistan sind, hat aber Angst vor dem Krieg. Es sieht auf Fotos Kinder neben dem Feuer und stellt sich vor, wie es denen geht. Wenn Menschen verbrennen, ist das furchtbar. Das Kind wünscht sich, dass das aufhöre. Am schlimmsten ist der Krieg, die Erwachsenen reden oft davon, von früher, dort sind Bomben gefallen, und die Mutter ist mit ihrem kleinen Bruder in einen Hauseingang gerannt, und dann hat es sie nicht getroffen, was ein großes Glück war. Das Kind hat große Angst vor Feuer. Es will nicht nachts in einem Haus verbrennen.
Das Kind teilt die Menschen und Dinge in der Welt in gerecht und ungerecht ein. Es denkt viel nach, weil es viel Zeit hat. Das Kind findet ungerecht, dass der Vater die Mutter mit allem alleine lässt, ungerecht aber auch, dass die Mutter das Kind anmeckert. Dass die Kinder im Kindergarten aufessen müssen, ist auch ungerecht. Ungerecht ist auch, dass Erwachsene finden, dass Kinder nie recht haben dürfen, dass Kinder Mittagsschlaf machen müssen, dass viele Erwachsene oft missmutig und meckerig sind.
Das Kind denkt auch über die Märchen nach, die man ihm vorliest. Dem Däumeling geschieht etwas Schlimmes, nachher bekommt er doch recht. In Märchen geschieht Kindern sehr oft Schlimmes. Immer sind es die Kleinsten, Jüngsten oder Ärmsten. Die werden ungerecht behandelt, können sich aber manchmal herauskämpfen. Eine Prüfung müssen sie bestehen, etwas Großes tun, einen Drachen besiegen. Und wenn sie das geschafft haben, geht es manchmal wieder gerecht zu. Man soll stark, aber nicht eigenwillig sein. Im Eigensinnigen Kind wird das Kind, weil es so eigensinnig ist, vom lieben Gott erst krank gemacht, dann sterben gelassen, weil es besser für das Kind ist, tot zu sein. Das Kind streckt ein Ärmchen aus dem Grab und die Mutter muss erst viele Male mit der Rute auf das Ärmchen einschlagen, bis es Ruhe gibt. Hände begucken gibt Ärger, sagen die Erwachsenen, und das Kind hat Angst, seine Hände anzuschauen. Wenn die Erwachsenen mit dem Kind unzufrieden sind, dann sagen sie, es habe wohl einen Bock und müsse vor die Tür.
Der Vater nimmt sie manchmal mit in seine Firma. In der Firma darf das Kind mit dicken Filzstiften auf einem hellen Tisch malen, der von unten beleuchtet ist. Es ist ein düsteres Haus mit einem Treppenschacht, der in eine dunkle Tiefe führt. »Da kann man reinfallen«, sagt ihr Vater, »pass nur auf.« In der Firma riecht es nach Papier. Es stehen überall mit Schnüren zusammengebundene Zeitungsstapel. Der Vater spricht aufgeregt,