Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones


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      G a i lJ o n e s

      E i nS a m s t a g

      i nS y d n e y

      R o m a n

      A u sd e ma u s t r a l i s c h e nE n g l i s c h

      ü b e r s e t z tv o nC o n n yL ö s c h

      Die Originalausgabe des vorliegenden

      Buches erschien unter dem Titel Five Bells

      bei Harvill Secker, 2011

      Die Zitate aus Doktor Shiwago folgen der Ausgabe

      des S. Fischer Verlags, Frankfurt am Main 1992,

      Deutsch von Thomas Reschke

      Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

      Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

       www.edition-nautilus.de

      Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2013

      Deutsche Erstausgabe August 2013

      Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

       www.majabechert.de

      Druck und Bindung:

      Freiburger Graphische Betriebe

      1. Auflage

      Print ISBN 978-3-89401-778-1

      E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-140-9

      E-Book PDF ISBN 978-3-86438-141-6

      »Das Gedächtnis glaubt, ehe das Wissen erinnert.«

      William Faulkner, Licht im August

      Where have you gone? The tide is over you,

      the turn of midnight water’s over you.

      As time is over you, and mystery,

      And memory, the flood that does not flow.

      Kenneth Slessor, »Five Bells«

       1

      Circular Quay: Sie liebte sogar den Klang dieser Worte.

      Noch bevor sie das hell leuchtende Wasserbecken sah, das anschwoll wie etwas Sexuelles, noch bevor sie das unerhörte Blau und den klaren, ansteigenden Himmel erblickte, wusste sie schon allein aufgrund des Klangs der geträllerten Worte, dass es sich um ein unvergleichliches Kreisrund handeln würde, um den Schlüssel – key/quay – zu einer neuen Welt.

      Der Zug schwenkte in weitem Bogen herum, vorbei an robusten Gebäuden, und da war sie, erste Blicke durch schmiedeeiserne Streben, jene verschwommenen Teilansichten waren ihr ein stilles Vergnügen. Mit der Rolltreppe nach unten, die unter der schweren Last der Körper ruckelte, durch das elektronische Drehkreuz, das ihr geknicktes Ticket einbehielt, dann wurde sie in einer Menschenmenge gefangen und nach draußen getragen.

      Zunächst war sie verwirrt, erschrocken über das unvermittelte Licht, all die Schilder, das ganze Geschrei. Doch dann öffnete sich ein Ausblick, und sie sah die Anlegestellen der Fähren vor sich, in einer Reihe wie Ferienhäuschen in allen Grundfarben, dazu die schaukelnden Boote, grün und gelb, wie Spielzeug geformt, sie kamen an, nahmen träge Schlangen von Passagieren auf, legten ab. Mit einem Herz wie ein Trampolin betrachtete sie die Brücke zu ihrer Linken: ihre moderne Form, die optimistische Wölbung.

      Bekannt durch Postkarten und Fernsehwerbung, aber jetzt hier, hier und jetzt, war das Ding selbst, elegant und faszinierend. Oben waren kleine Fähnchen zu erkennen und die Ameisen-Silhouetten von Menschen, die den mühsamen Aufstieg auf sich genommen hatten. Sie wirkten wie auf den Himmel gestempelt, als könnten sie durch nichts je entfernt werden. Sie wirkten unauslöschlich. Der Kleiderbügel hieß es im Reiseführer, aber sie war so viel graziler, als dieser Begriff vermuten ließ. Die Stimmigkeit, der Bogen, die Spannweite erstarrter harter Arbeit. Die beiden starken Pfeiler an den Seiten, die vielen Millionen Nieten.

      Ellie starrte sie staunend an wie ein Kind, frei von Ironie. Sie entsann sich an etwas aus ihrer Schulzeit: Janus war mit seinen beiden Gesichtern auch der Gott der Brücken, denn Brücken blicken in zwei Richtungen und sind daher immer zwiefach. Vage erinnerte sie sich auch an ihre Lehrerin Miss Morrison, die Janus an die Tafel zeichnete, ihre ungeübte Sommersprossenhand fuhr mit der Kreide die Umrisse zweier Profile ab. Mit dem Rücken zur Klasse besaß ihre Erscheinung ein gewisses Pathos. Sie hatte stramme Waden und eine Rückgratverkrümmung, und die Klasse hätte sie ausgelacht, wäre sie keine so großartige Geschichtenerzählerin gewesen, denn Geschichten lassen jedes Bild gegenüber den Worten, auf die es sich bezieht, kleiner werden. Römischer Gott: unterstrichen. Die Janusköpfe passten nicht zueinander. Ein einfaches Bild an der Schultafel zerrte an ihren Gefühlen, und Ellie hatte es geliebt, eben weil es nicht funktionierte, weil es keine Dopplung und keine Symmetrie gibt. Und weil der Anblick von Miss Morrisons strammen Waden sie stets beruhigte und tröstete.

      Von irgendwoher war das Didgeridoo eines Straßenmusikers zu hören, unterlegt mit einem elektronischen Beat, bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm. Es löste sich in der Luft auf, zähflüssig und erst vor kurzem veraltet.

      Für Touristen, dachte Ellie, ohne Geringschätzung. Für mich. Für uns alle. Bumm-bumm, bumm-bumm.

      Im demokratischen Gedränge, im Durcheinander der Menschen, sah sie Sonnenlicht auf den Köpfen der Amerikaner und Japaner; sie sah kleine Kinder mit Eis und Reisegruppen mit Kameras. Sie hörte, dass schönes Wetter entspannte Plaudereien freizusetzen vermochte. Da war ein Zeitungskiosk mit übereinander präsentierten Zeitungen in mehreren Sprachen, die im sanften Wind leicht bebten, und in Abständen saßen Menschen in Kabinen hinter Glas, verkauften Tickets für die Fähren. Da war eine lebende Statue in pastellfarbener Robe, die nach irgendetwas Klassischem aussehen sollte, einen plattgedrückten Hut vor sich, in dem ein paar Münzen glänzten. Ein Saum aus Schaulustigen hatte sich drumherum gebildet, sie betrachteten die vielen verschiedenen Formen von Kunst.

      Janus, daher kommt der Januar.

      Ellie drehte sich um wie jemand, dem plötzlich etwas wieder einfällt, wandte sich in die andere Richtung. Sie hatte sie noch nicht in Gänze gesehen. Hinter dem letzten Pier und der letzten Fähre befand sich ein Kai mit einer Reihe hässlicher Gebäude und dahinter, ja, unbeeinträchtigte Sicht.

      Sie war mondweiß und schien eine große ernste Ruhe in sich zu tragen. Der Fächer ihrer Kammern wirkte zusammengeschoben, dem Wasser zugeneigt. Ein sich entfaltendes Ding, eine Jalousie, eine Art Abfolge. Ellie staunte, dass ein so einzigartiges Gebäude überhaupt je erschaffen werden konnte, etwas so potenziell Launisches oder Eigentümliches. Und dann diese flehende Form, wie ein Körper, der sich in eine tiefe Verbeugung oder eine theologische Geste begibt. Ellie konnte sich Musik dort vorstellen, aber keine Menschen. Sie schien in einem Zustand der Wachsamkeit gegenüber akustischen Bedeutungen zu verharren, konzentriert auf Schallwellen, dem Kreisen und Fließen geöffnet.

      Ja, da war sie. Lehnte am klaren Morgenhimmel.

      Ellie hob ihre Kamera und drückte ab. Das meistfotografierte Gebäude Sydneys. Im Sucher wurde es zu einer Ansammlung aus Ebenen und Kurven: perfekter Futurismus. Marinetti hätte es erträumt haben können.

      Unvermittelte Freude war heutzutage nicht mehr angesagt. Ganz zu schweigen von der banalen Begeisterung für das berühmte Wahrzeichen einer Stadt. Aber Ellies Herz ging auf wie jene Form, die sich ins Blau hinein entfaltete; sie war erfüllt von kitschigem Entzücken


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