Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones


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und ihre unendlichen Gefühle auf wenige leuchtende Codes. All jene flinken Zappelfinger, rätselhafte Kreisläufe tippend. All jene Mikroprozessorenzeichen und elektronischen Hallos. Der Mann, der sich auf den Platz neben ihr setzte, klappte einen buchgroßen Laptop auf. Eine angenehme Harmonie, G-Dur, ertönte, und das Gerät leuchtete auf wie eine persönliche Lampe.

      Ich bin alt, dachte sie und wandte sich ab, um aus dem Fenster zu sehen. Ja, ich bin alt.

      Da war sie, jadeweiß über dem Wasser. Sie konnte sich nie satt daran sehen. Ein Fixpunkt, auf den sie sich verließ. Die Formen ruhten aufeinander wie gestapelte Porzellanschüsseln, zerbrechlich, geneigt, unerwartet harmonisch.

      »He«: Harmonie.

      Sie sah das chinesische Schriftzeichen, Weizen und einen Mund; sie sah die schwungvollen acht Züge des Wolfshaarpinsels. Sie spürte die Hand ihres Vaters auf ihrem Rücken, er korrigierte ihre Haltung, während er sie in Kalligrafie unterrichtete. Manchmal korrigierte er auch die Höhe ihres Kinns mit der zartesten Berührung, einer einzigen Fingerspitze, dann beobachtete er sie, wie sie den Pinsel in die Tinte tauchte und sich an einem schwierigen Schriftzeichen versuchte.

      Das Bauwerk glitt vorbei. Pei Xing erlag der Illusion, es würde sich bewegen, während sie noch immer stillstand. Sie blickte zurück, um es davontreiben zu sehen, es wurde immer kleiner und zum Ornament, klein genug, um in der Hand gehalten zu werden. Jemand an der Reling draußen bewegte sich und versperrte ihr die Sicht.

      Mary, wo war Mary? Ach, die arme Seele. Und Aristos, armer Aristos.

      Pei Xing spürte das Vibrieren der Fähre und vernahm das gemurmelte Brummen des Motors. Sie schloss die Augen und sah sich selbst, wie andere sie vielleicht sahen: als Miniatur, eine Chinesin mit unergründlicher Aura. Eine Art Type, oder eine Leerstelle. Dann sah sie sich selbst von innen: Jene Schichten des Ich reisten langsam, sachte über das Wasser und durch die Zeit, das Kind, das eine weiße, zarte Teetasse von seiner Mutter bekam, die Schülerin mit Zöpfen, der man beibrachte, still zu sitzen, die Hände in den Schoß zu legen, die Geliebte, die der Vereinigung mit dem Körper eines Mannes gewölbte Räume öffnet, die Mutter, die sich weinend vor Freude über den Kopf ihres kleinen Sohnes beugt. In dem wilden Durcheinander beim Verlassen Shanghais waren diese Formen des Ich ineinander übergegangen; jetzt in der rückblickenden Betrachtung war sie in der Lage, diese aufzufächern. Heutzutage hatte sie sich angewöhnt, sich selbst auf diese Weise zu betrachten, die Concertina eines Lebens, in dem sie ihre eigenen Falten und Zwischenräume sah. Ich habe viele Leben gelebt. Das hatte etwas Tröstliches, nicht eine zu sein, sondern viele, nicht nur eine Sprache zu sprechen, sondern mehrere, nicht eine für sich alleinstehende Vergangenheit zu haben, sondern gleich einen ganzen Strang, multiple Vergangenheiten.

      Sie musste ein wenig eingenickt sein. Als sie blinzelnd aufwachte, hatte die Fähre das Nordufer erreicht, die Passagiere standen auf und machten sich bereit auszusteigen. Da war die Unruhe aufbrechender Körper, Stimmen erhoben sich, sprachen über den Zielort, Handtaschen wurden umgehängt oder geöffnet, oder man griff nach einem Handy. Irgendwoher kam Mozart – oder bildete sie sich das nur ein? –, ein Hauch von Cherubinos Arie schwebte durch die Luft. Draußen strahlendes Licht. Hohe Bäume neigten sich im Wind, der vom Wasser kam. Dort waren die Häuser reicher Menschen und die Biegung eines steilen Anstiegs von Schlingpflanzen und Blumen bekränzt.

      Die Fähre rammte den kleinen Anlegesteg eines Paradieses, das alle für selbstverständlich hielten.

      Als Catherine aus dem Zug stieg, ließ sie ihre Fahrkarte fallen. Scheiße: Sie brauchte sie zum Verlassen des Bahnhofs.

      Im Dämmerlicht des Bahnhofs flatterte sie unter laufende Schuhe. Aber dann blieb die Fahrkarte liegen, und sie bückte sich danach, richtete sich wieder auf und hielt sie wie ein besonderes botanisches Exemplar hoch erhoben, das papierne Blütenblatt einer seltenen Orchidee, die man nur auf Bahnhöfen findet.

      On a wet black bough.

      Auf einem nassen schwarzen Ast.

      Sie fuhr mit der Rolltreppe abwärts und bewegte sich mit der Menge wie mit einem einzigen Körper.

      »Achtung jetzt, Schatz«, hörte sie eine Stimme zu einem Kind sagen, und sie wurde erfüllt von poetischem Impuls und zärtlicher Neigung. Das Kind war ein Mädchen mit glitzernden rosa Klammern im gescheitelten Haar. Ihr Vater hielt ihre Hand über den Kopf und führte sie nach unten. Catherine betrachtete ihr schwingendes Kleid, ihre nackten Beine und die Riemen ihrer Sandalen. Ein Erinnerungsfetzen wurde wach, den sie jedoch nicht richtig zu fassen bekam.

      Unten – am Kai – suchte Catherine sie dann sofort. Sie fragte einen arabisch aussehenden Mann an einem Zeitungsstand: Er lächelte freundlich und streckte seinen speckigen Arm nach rechts. Auf diese Weise wies er ihr den Weg, ohne ein Wort zu sagen.

      Catherine ging vorbei an dicht gedrängten Anlegestellen und Cafés und dem wilden Trubel der Freizeitmassen. Es gab Schlangen an den Fahrkartenschaltern der hübschen, altmodischen Fähren, die einheitlich smaragdgrün und gold gestrichen waren, und Leute spazierten einfach nur umher, standen am Kai oder ließen sich fotografieren. Da war eine lebende Statue, unmenschlich starr, ein römischer Gott.

      Dort hinten schmiegte sie sich in die Biegung der Hafenanlage, die gefalzte Form streckte sich nach oben, wie zum Leben erwachte Blütenblätter. Die Spitzen hätten auch aus einer Schale weißer Rosen kommen können, es war der Moment, wenn sie müde werden und erschöpft die Köpfe hängen lassen, kurz vor dem Verblühen. Blown, dieser seltsame Begriff, a bowl of blown roses. Sie hatte nicht erwartet, dass etwas so von Grund auf Hartes und Helles an Wind und Blumen erinnern könnte. Sie hatte nicht erwartet, auf obskure Weise an ihren eigenen Körper verwiesen zu werden.

      »Gib mir einen Kuss!«

      Catherine hörte einen schottischen Akzent, eine Spur von beschwipstem Überschwang.

      Und dann: »Über den Jordan, das Auto; scheiß Karre, das war’s, hinüber, denke ich, verkaufen oder was? Ja? Was meinst du? Was? Was hast du gesagt?« Mit überlauter Stimme in ein Handy gesprochen.

      Catherine liebte australische Akzente und wie sie durch die Luft schnarrten. Das Gespräch wurde in einem freundlichen Knurrton geführt. Französisch war da auch – sie erkannte die Silben, die sie zum ersten Mal als Schulmädchen in Dublin gehört hatte – und Fragmente von, was war das? – melodiösem Mandarin. Catherine sah einen jungen Mann, der nach seiner Freundin griff. Er packte sie um die Taille, warf sie herum und küsste sie theatralisch, beendete den Kuss mit einem dicken Schmatz. Es war der Schotte, ebenfalls ein Besucher, wie sie selbst. Er trug eine NYC-Kappe auf dem Kopf und strahlte das unbesonnene Selbstbewusstsein eines Frischverliebten aus.

      Und das war der Moment, in dem sie daran dachte: Schönheit wie ein Kuss.

      An einem Tag wie diesem, einem strahlenden Januartag, an dem das Licht vom Himmel fließt und das Verwehte nicht Auflösung, sondern Zeichen von Vollkommenheit ist, wenn sich andere Leben ringsum zu öffnen und aufzublühen schienen, ließ sich leicht glauben, dass die Anrufung von etwas Schönem Erotik barg. Das war es, Erregtheit, die Ruhe eines neuen Vergnügens, der Trost einer plötzlichen Verbindung, intim und unvorhergesehen. Aus einer Art demütigem Instinkt heraus neigte sie den Kopf, dann hob sie ihn wieder und sah erneut die Blütenblätter.

      Catherine ertappte sich dabei, wie sie an den Geliebten dachte, den sie zurückgelassen hatte. Sie dachte an Lucs Mund, seine körperlichen Reize, und die gezackte Narbe auf seiner Oberlippe, das Mal, das zurückgeblieben war, nachdem er als Kind mit einem Korkenzieher gespielt hatte. Es war das Merkmal, an dem sie ihn erkannte, die Vertiefung, die seine Wunde war. Wenn sie sich liebten, suchte ihre Zunge mit einem vorwitzigen Kuss danach. Jetzt dachte sie daran, wie ihre Lippen seine Brust mit Küssen bedeckten, seine Haut schmeckten. Sie dachte an ihre Hände, die in einer schwülen, warmen Nacht nach seinen kühlen Pobacken griffen; wie herrlich männliche Pobacken ganz allgemein waren, stets unverdorben, auch wenn andere Körperteile schon hingen oder sich verfärbten. Sie betrachtete ihn gerne beim Schlafen, mit dem Gesicht nach unten, einen Arm unter den


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