Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones


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sie ihn noch nicht gesehen hatte, wollte herumspazieren, Maulaffen feilhalten, wie ihr Vater sagen würde, und Ausschau halten, um James unbemerkt zu beobachten, wenn er eintraf. Sie würde Maulaffen feilhalten, würde Leute beobachten, durch die Stadt streifen, das Gewusel der Massen genießen und die unberechenbaren Bewegungen des Menschenverkehrs, der flutartig an Ampeln heranschwappte, seine rhythmischen Fortbewegungsschübe, nichts Besonderes zu tun zu haben, bis es Zeit für das Treffen war. Sechs Wochen. Seit sechs Wochen lebte sie in Sydney und hatte noch immer den Quay nicht gesehen. Die Wohnungssuche, das Einleben; jetzt hatte ihr James’ E-Mail gestattet, einen Tag für Besichtigungen freizunehmen.

      Ellie machte sich einen Kaffee und breitete die Samstagszeitungen auf dem Tisch aus. Da waren die üblichen Schrecken. Der Krieg im Irak, die Bomben in Afghanistan, die Raffgier der großen Mächte und die Unterwerfung der kleinen. Auf der Titelseite war ein Foto von einer verzweifelten Frau mit Kopftuch, in zerrissener, drastischer Trauer über den toten Körper ihres Sohnes gebeugt. Das Bild war exemplarisch und vertraut. Sie war die namenlose Mutter, die einen namenlosen Sohn verloren hatte, das gefällige Porträt eines weiteren Angriffs, und es war ausgewählt worden, weil ihre verzerrten Gesichtszüge und ihre Verzweiflung, das Flehen ihrer erhobenen Hände, pantomimisch über das hinausgingen, was journalistisch möglich war.

      Die ungeheure Sichel des Todes.

      In die Geschichte würde diese Zeit als unerbittliche Wiederholung eingehen. Wie viele Bilder der Trauer mochte der Leser einer beliebigen Zeitung sehen? Wie viele Bilder von aufgerissener Erde oder von Sanitätern, die mit einer Trage vorübereilen, eine Gestalt zu klein, zu anonym und zu tödlich reglos unter einem Tuch? Wie lange würden diese Bilder noch etwas bedeuten? Ellie dachte an den japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto, der Filme im Kino fotografierte. Er ließ die Blende im dunklen Zuschauerraum geöffnet und belichtete seinen Film über die gesamte Dauer der Vorführung. Das Ergebnis waren nicht wild und kompliziert übereinandergelagerte Bilder, sondern schlichtes weißes, reines Licht, aufblitzendes Nichts. Zu viele Bilder, die einander überlagern, ergeben eine Leerstelle. Sie stellte sich vor, wie Hiroshi Sugimoto seine Fotos in einer Galerie betrachtete und über das Mysterium staunte, das dieses Übermaß an Auslöschung bewirkt.

      Von irgendwoher in der Straße ertönte eine Sirene. Dann noch eine, gefolgt von einer weiteren, einem schrillen Jaulen. Ellie wollte sich schützen vor dem, was ihre Laune kippen könnte. Sie las nur die ersten beiden Absätze über den Irak, dann suchte sie die Inlandsnachrichten. Die Artikel handelten immer noch vom Regierungswechsel und den »Flitterwochen«, die auf den Amtsantritt folgten (seltsam, dachte sie, diese sexuellen Konnotationen). Aber es lag Optimismus in der Luft und ein Hauch von Neubeginn. Der noch recht junge Premierminister, dessen Mondgesicht strahlte, wirkte sehr zufrieden mit sich, wie ein Schulsprecher im Blazer bei einer Preisverleihung. Ellie staunte immer wieder, wie viele männliche Politiker sich ihr Kleinejungengesicht bewahrten. Oder wie vielen es gelang, verdutzt über ihre eigenen maßgeblichen Ankündigungen zu wirken, wenn sie im Scheinwerferlicht der TV-Studios darauf bestanden, dass eine unsinnige Entscheidung in bester Absicht getroffen wurde. Die Mikrofone sahen aus wie lauschende Insekten, vornübergebeugt saugten sie den Nektar des Skandals. Jetzt gab es eine neue Regierung. Möglicherweise durfte man noch Veränderungen erwarten; und würde möglicherweise enttäuscht. Ellie hatte die Literaturbeilagen aus den Zeitungen genommen. Die würde sie sich für später aufheben, um die literarischen Dimensionen der Welt in Ruhe zu überfliegen, diese unermüdliche, scheinbar heldenhafte Sinnproduktion. Sie hatte derzeit kein Geld, um sich neue Bücher zu kaufen, aber dafür gab es ja Bibliotheken, die sie sehr schätzte, und außerdem diese kompakten Beschreibungen anderer Welten.

      Eine der Mitarbeiterinnen in ihrer Stadtteilbibliothek sah aus wie Miss Morrison. Warum war ihr dieser Zusammenhang vorher nie aufgefallen? Und beide ähnelten, wiederum in einer seltsamen Anverwandlung, der Königin von England, deren absonderlich steifem Gesicht, dem strichschmal angespannten Mund. Miss Morrison zeichnete etwas an die Tafel und schrieb tolle Wörter, unterstrich sie mit einem übergroßen Eichenholzlineal, das klatschte, wenn es traf. Wenn sich Ellie heute an sie erinnerte, dann oft in statischer Rückschau, die Frau unbestimmten Alters, die vermittels eigener Botschaften kommuniziert, abgewandt, ernst, mit dem Rücken zur Klasse. Die Kinder ihrer Kleinstadtschule, James saß neben ihr, verspürten den Impuls, sie zu verspotten, allerdings irgendwie gedämpft und respektvoll. Außerhalb der Schule konnte James jedoch grausam sein. Er war das Kind – eines gibt es immer –, das andere parodierte. Zum schuldbewussten Vergnügen seiner Klassenkameraden äffte er Miss Morrisons gebückte Haltung nach, imitierte ihre sehr hohe Stimme und tat, als würde er Worte an einer unsichtbaren Tafel unterstreichen, anschließend drehte er sich mit verächtlicher Grimasse zu seinen Klassenkameraden um.

      Ellie faltete die Zeitungen zusammen und trank ihren Kaffee aus. Wachsblumenduft hing im Raum. Ein weiterer sonnendurchfluteter Tag von der Art, wie er die Stadt im besten Licht erscheinen lässt. Von der Art, wie Pauschalreisen ihn versprechen, mit Strandvolleyball, ausgelassenen Kindern und den Schatten bebender Palmen über unglaublich grellblauem Wasser. Trotzdem, Sydney überraschte sie. Würde sie es immer so sehen? Würde der Circular Quay seiner eigenen Reklame gerecht? Ellie berührte ihre bemalten Lippen, dachte an ihre Haare und ärgerte sich anschließend über die Reste der Eitelkeit, die sie längst zu eliminieren versucht hatte.

      Als sie mit der Tasse aufstand und an die Spüle ging, erinnerte sie sich mit einem Gefühl der innigen Verbundenheit an James und Miss Morrison. James hatte im Unterricht Nasenbluten bekommen und Miss Morrison hatte ihm den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, ihre linke Hand ruhte dabei auf seiner Stirn, in der rechten hielt sie ein Tuch, vollgesogen und rot, und presste es ihm unter die Nase. Eine Art lebendiges Gemälde: Die Lehrerin beflissen, bestimmt, übernahm die Kontrolle über den Körper des Kindes; der Junge war mürrisch, aber gefügig, verlegen wegen seiner blutenden Nase und seiner öffentlichen Unterwerfung. Miss Morrison zwang ihn nieder, hielt ihn dort, und seine Klassenkameraden sahen böswillig fasziniert zu. Ellie hatte etwas sagen oder Krankenschwester sein wollen, hätte ihm am liebsten selbst die Hände aufs Gesicht gelegt, feuchtkalt und liebevoll, aber stattdessen saß sie auf ihrem Platz und sah wie alle anderen zu, bedauerte ihn stillschweigend.

      James hatte oft Nasenbluten. Es gehörte zu den Beschwerden, die Begabte ereilen, die sie den anderen scheinbar gleichmachen, verletzlich und alltäglich. James gewöhnte sich an, immer ein paar Taschentücher dabeizuhaben und schon beim allerersten Anzeichen von Blut das Klassenzimmer zu verlassen. Ellie hatte ängstlich Mitleid empfunden; der Junge, sonst der Star der Klasse, ein intellektueller Überflieger, stand in einer feuchten verborgenen Ecke, und das Blut floss nur so aus ihm heraus, der Kopf war nach oben gerichtet, Flüssigkeit lief ihm in die Kehle, und im Mund hatte er den Geschmack von etwas Saurem und Innerem wie dem Tod. Wenn James danach ins Klassenzimmer zurückkehrte, blickte er niemandem ins Gesicht, nahm aber seine besserwisserische, rotzfreche Haltung ein, gab mit seiner Belesenheit an und stellte geistreich seine Freunde bloß. Miss Morrison war gereizt – Ellie merkte es ihr an –, bewahrte sich aber ihre distanzierte Zuneigung, die schlaue Kinder hervorrufen. Kaum war da ein vulgärer Blutfleck auf James’ kariertem Hemd, konnte keinerlei Tollkühnheit ihn zum Verschwinden bringen, James’ Macht wieder herstellen.

      Und nun war da Miss Morrison, die ihn in ihren Armen wiegte, ihm wie eine Mutter den Kopf hielt. James hatte das benommene, verlassene Aussehen eines Kindes, das schwach oder kurz vor der Ohnmacht war, unwillentlich innerlich zusammenfiel, schlaff und nachgiebig wurde wie eine Pflanze. Es war eine Vision, die sie wie ein Fresko verband, patiniert und mit altersbedingten Rissen ließ es seine Bedeutung durch die Zeit hindurch strahlen wie unter dem Bogen einer italienischen Kirche hindurch. Ellie widerstand dem Wort pietá, aber es war dennoch präsent und verlieh einem letztlich doch sehr gewöhnlichen Missgeschick Würde.

      Miss Morrison sah wunderschön aus, auf die Art, wie Zärtlichkeit schön macht, eine Art äußeres Anzeichen für den weichen Fall, den sie ihm bereitete. Ellie wunderte sich darüber, dass sie auf diese Weise an ihre Lehrerin dachte, fand ihre Kindheit im Rückblick voll eben jener Zärtlichkeit, die sie vermisste, an die sie sich erinnern wollte und die sie gefunden hatte, als sie mit der Schläfrigkeit, die einer entspannten postkoitalen Zuversicht vorausgeht, in die Arme eines Mannes rollte. Ihr ehemaliger Geliebter war ein sanfter Mensch, und sie träumte immer noch


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