Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones


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an wie eine Puppe –, rief Mitleid in ihm hervor.

      James spürte den Regen auf seinem Gesicht. Er war kühl und leicht. Er spürte eine Verbundenheit zu den anderen um diese Zeit Wachen, den Desperados der Stadt und den arbeitenden Fahrern. Den Versprengten, Verlorenen und Umherschweifenden. Den Schlaflosen. Den Benachteiligten. Landmenschen wie er vielleicht, denen dieser ganze Mist in der Stadt zu viel war, die sich überwältigt fühlten. Als ein Krankenwagen mit heulender Sirene vorbeiraste, dachte James, wie emblematisch dies für das Großstadtleben war: Irgendwo gab es hier immer einen Unfall oder eine Katastrophe, immer blutete jemand oder verlor seine Eingeweide.

      Er sagte sich immer wieder, er sei nach Sydney gekommen, um mit Ellie zu sprechen, etwas von seiner Vergangenheit zu retten, etwas gutzumachen und ihr zu erzählen, aber sein Aufenthalt hier hatte etwas Trostloses und Endgültiges, hier und jetzt, in dieser regnerischen, traurigen Dunkelheit, in der er wahrhaft eins mit sich war.

      James musste schließlich wieder eingeschlafen sein, denn um neun wachte er erneut auf. Der Name Magritte lag ihm auf den Lippen. Er flackerte auf in seinen Gedanken, dann verließ er sie wieder. James war von zu vielen Pillen und dem Wodka spät in der Nacht erledigt, unkonzentriert und stumpf. Der Tag war bereits heiß, und die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete, und James stand auf, weil er den Gang hinuntergehen und pinkeln musste. Ein heikler Ausflug. Die Kacheln waren krankenhausgrün und die Wände schmutzig. Er entdeckte Spinnen unter den Rohren, Flecken von den Absonderungen anderer Männer und das Morgenlicht, das durch das vergitterte Fenster strömte und ihn eigentlich hätte aufmuntern sollen, stattdessen aber einen grellen Kopfschmerz anstieß. Als er sich vor dem Spiegel über dem Becken rasierte, wich er seinen eigenen Blicken aus. Wie viele Männer rasieren sich so, ohne sich dabei selbst sehen zu wollen? In der schrägen Neigung seines Kopfes versteckte er sich vor dem, was zum Vorschein kommen mochte. Der Verlust des Glaubens. Der Verlust des Gesichts. Das Ende dessen, was er einst erträumt hatte oder hätte werden können.

      Zurück in seinem Zimmer schluckte James eine Handvoll Vitamine und Analgetika, ahmte den verrückten Arzt aus dem Fernsehen nach, der sich ständig selbst Medikamente verschrieb. Einige Sekunden lang überlegte er, ob er sich wieder hinlegen, in ein Laken hüllen und die Augen vor dem Tag verschließen sollte, der Echtzeit der Stadt eine Abfuhr erteilen und den Rückzug vorziehen.

      Doch er stand auf und verließ den düsteren Raum – Ellie, Ellie –, betrachtete seine Füße auf den ungleichmäßigen Stufen.

      Der junge Mann am Empfang hatte ebenfalls eine schlechte Nacht gehabt und schien noch erledigter als James. Er hob eine Hand, die Handfläche nach außen gekehrt, wie ein katholischer Priester bei einer stummen Segnung. Könnte schwul sein, dachte James. Er hatte das grauhäutige Aussehen von jemandem, der in einer Raumkapsel lebt, in einem Science-Fiction-Film aus den Achtzigern mit sabbernden Aliens und ständiger Gefahr. Oder eines Ertrunkenen, fortgespült, verloren in den Tiefen des Wassers. Seine Blässe leuchtete traurig und unheilig. James nickte ihm zu, wollte nicht an Priester, Ertrunkene oder schlechte Filme denken und trat rasch hinaus auf die Straße, um Smalltalk zu vermeiden.

      René Magritte, sein Lieblingsmaler.

      Mit vierzehn ging Magritte mit seinem Vater Leopold ans Ufer der Sambre, um die Leiche seiner Mutter Adeline zu identifizieren. Sie war ins Wasser gegangen, hatte sich umgebracht, und er stand ernst und schweigend dort, hielt die Hand seines Vaters, ein pflichtbewusster Sohn, ein verlässlicher braver Junge, während man ihren schlanken Körper aus dem kalten grauen Wasser fischte. Das war 1912. Es war das Ende seiner Kindheit. Leopolds Gesicht war voller geplatzter Äderchen und rot vom Weinen; seine Knie gaben nach, er ließ los und brach wie eine Marionette vor seiner toten Frau zusammen. Doch der blasse junge René stand einfach nur da und schaute. René war der Starke, blieb emotional gefasst. Stoff bedeckte das Gesicht seiner Mutter wie ein nasses klebriges Leichentuch. Ihr Kleid hatte sich umgestülpt, als man sie mit den Füßen voran aus dem Fluss zog, und trotzdem hatte er sie an den braunen Schuhen erkannt, an denen sie eine Schnalle durch eine andere, nicht passende, ersetzt hatte, und an dem Siegelring an ihrem Mittelfinger, der einst seiner Großmutter gehört hatte. Als sie den Rock herunterschälten und sie anständig zurechtmachten, war sie schmutzig vom Flussschlamm und gab vor zu schlafen. Ihre Wangen waren fahl, eingefallen, ihre Augen geschlossen, und René spürte sein Herz beben und kentern. Ihr Gesicht. Seine Mutter. Ein so tiefer Tod, dass man sich darin suhlen konnte.

      Nicht viel später trat der künftige Surrealist seine erste Stelle in einer Tapetenfabrik an, wo er Wiederholungen entwarf. Wiederholungen waren leicht. Jeder lose Schnörkel wirkte abgeschlossen, wenn er in einer Wiederholung aufgereiht wurde. Jede einzelne Blüte wurde zu vielen, jede große Abstraktion zum Muster. Die unkomplizierte und schablonenhafte Dekoration hatte etwas Tröstliches, das Sickern der Farbe durch den Seidenstoff beim Siebdruck und die feuchten Bögen, die Regelmäßigkeit der Kopien und der Umstand, dass sie Wohnzimmer und Schlafzimmer auskleideten. Er hätte ewig so weitermachen können, Oberflächen mit Tapeten versehen, immer und immer wieder dasselbe Bild drucken.

      Später, als Magritte Künstler in Paris war und seine Vergangenheit neu erfand, behauptete jemand, seine verstörendsten Gemälde zeigten Figuren, deren Augen verbunden oder mit Stoff bedeckt seien, und damals wusste er – als würde er auf eine Anschuldigung reagieren –, dass er seine Mutter verwandelt hatte, dass er sie zu Kunst gemacht hatte und alles Tiefverborgene als eine weitere Wiederholung wiedergeboren wurde.

      James hielt auf der geschäftigen Straße inne, sah sich um, wirkte verloren. Sydney, Samstagmorgens. Januar. George Street. Warum dachte er nach all den Jahren jetzt wieder an Magritte? Warum kam ihm die Geschichte von Adeline in der Erinnerung an seine eigene so ähnlich vor?

      Da waren Einkaufende, die in die Kaufhäuser eilten, und ein breitgefächerter Trubel. Die auf den Kai zufahrenden Busse dröhnten wie Donner. Autos strahlten in der Helligkeit des Morgens. James war sich der Hartnäckigkeit der Massen bewusst, die auf ein sommerliches Schnäppchen aus waren, er sah, wie sie sich in kraftvollen Strömen und brechenden Wellen weiterbewegten, nahm wahr, welche Möglichkeiten des Verbergens sie boten, der Auflösung des Selbst, das wahnsinnige Gefühl, in einen beweglichen Organismus eingesogen zu werden. Er ging ziellos, war eigentlich gar nicht da. Er war irgendwo in dem Belgien, das er sich als Kind anhand eines Buchs ausgemalt hatte, irgendwo im silbrigen Licht, am Ufer der trostlosen Sambre. Er war René, der Starke. War der pflichtbewusste Sohn, der verlässliche brave Junge.

      Künstler der Moderne: James’ Mutter hatte es ihm zu seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Erschrocken hatte er festgestellt, dass der kleine René am Ufer genauso alt war wie er und Renés Vater Leopold als Schneider angestellt war. James’ Vater war Schneider in der Heimat gewesen, hatte seine Mutter gesagt, vor ihrem Umzug nach Australien, wo er dann auf Baustellen arbeitete, Schubkarren mit feuchtem Zement über krumme Bohlen schob, schaufelte, hievte und sich seinen zarten Schneiderrücken ruinierte. Es war nicht verwunderlich, dass er sie verließ. Er war hier verloren, hatte seine Mutter gesagt. Wenn alle Häuser bauten, gab es für einen Schneider keine Arbeit.

      James hörte einen Anklang von Vergebung in ihrer festen Stimme. Sie sah ihm in die Augen. Auf der anderen Seite des Küchentischs glühte ihr Gesicht aufgrund der seltenen Enthüllung. Sie war schön gewesen, begriff er. Seine Mutter war schön gewesen. Und da war eine Spur von Verbitterung oder Schuldzuweisung. Vielleicht liebte sie ihn immer noch, dachte James vage. Vielleicht hören solche Gefühle nie auf.

      In Neapel hatte sich die schöne Giovanna in den gut aussehenden Schneider Matheus verliebt. Sie hatten sich gemeinsam auf ein Abenteuer begeben, waren auf dem Schiff Oriana über den Ozean geschippert und in Fremantle, im Westen Australiens, mit dem Gefühl gelandet, gestrandet zu sein. Fast unmittelbar darauf wussten sie bereits, dass etwas in ihrer Ehe nicht stimmte; doch damals ertrugen Paare dies, manchmal bis zur Verzweiflung. Als wollte sie sich gegen die Umsiedlung wehren, lernte Giovanna so gut wie kein Englisch und hielt eine stolze und entschlossene Isolation aufrecht. Matheus gesellte sich zu seinen paisano, um mit ihnen zu trinken und sich Ratschläge von Einheimischen zu holen. Er arbeitete schwer, lernte Englisch, folgte mit seiner Frau einem italienischen Maurertrupp in den Südwesten. Die körperliche Arbeit machte ihn kaputt. In diesem Land, in dem Männer nicht reden müssen, außer bei einem


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