Revolution und Heimarbeit. Frank Witzel
Frank Witzel
REVOLUTION UND
HEIMARBEIT
Roman
Edition Nautilus
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49 a · D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2003 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg 1. Auflage 2003
ePub ISBN 978-3-86438-191-1
Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein.
Georg Friedrich Hegel
Well, I’m a barrel of laughs, with my carbine on
I keep ’em hoppin’, till my ammunition’s gone.
But I’m still not happy, I feel like there’s something wrong.
I got the revolution blues,
I see bloody fountains,
And ten million dune buggies comin’ down the mountains.
Well, I hear that Laurel Canyon is full of famous stars,
But I hate them worse than lepers and I’ll kill them in their cars.
Neil Young
Leben heißt: Verbindungen eingehen, genießen und leiden, begehren, verabscheuen und lieben. Lektüre ist künstliches, geborgtes Leben, ein Born fremder Gedanken und Vorstellungen, die man sich aneignet durch Kauf oder Betrug, nicht aber durch Arbeit.
Benito Pérez Galdós
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Und natürlich hätte ein anderer aus dem dürftigen Material irgendetwas zusammengeschustert und damit der ganzen jetzt im nachhinein fast unnötig und beinahe peinlich wirkenden Aktion eine Art von Sinn abgerungen. Einen intellektuellen, sinnlichen, unter Umständen sogar sittlichen Mehrwert, den dieser andere mit entsprechender Verve über einen der Sender gejagt hätte, bei denen er als fester Freier oder freier Fester oder was auch immer in Lohn und Brot stünde, falls man im Medienbereich überhaupt von Lohn sprechen könne, denn was sei dort schon wirklich lohnend und verpuffe nicht umgehend, kaum daß es zwischen zwei und drei oder fünf und sechs, entsprechende Wiederholungen im Nachtprogramm nicht miteingerechnet, eingequetscht im ewigen und nicht auszurottenden Singsang des Immergleichen über den Äther taumele.
Ein anderer hätte dieses zusammengeschusterte Zeug mit Sicherheit irgendwo untergebracht, denn schlecht sei dieses Zeug im Prinzip nicht, eben nur unzusammenhängend und ohne roten Faden, was ihm übrigens auch schon zum Zeitpunkt der Aufnahmen aufgefallen sei. Gleich von Anfang an sei ihm das Unzusammenhängende aufgefallen und unangenehm ins Auge gestochen, aber, so habe er sich gesagt, das Leben sei nun einmal von seiner Anlage her unzusammenhängend, das Denken, das dieses Leben überhaupt erst konstruiere, bestenfalls sprunghaft, und außerdem wisse man schließlich nie, wohin sich ein Gespräch entwickele, weshalb er mit einer gewissen Sturheit in dem Flachdachbungalow in Arlington ausgeharrt habe.
Es sei ihm trotz ständiger Bemühungen nicht gelungen, mit Hilfe der winzigen Kopfhörer, eines dieser den Markt und die Gesellschaft und die Hirne beständig weiter infantilisierenden Produkte, das man ihm beim Kauf des Recorders mitgegeben habe, die Tonqualität der Aufnahme entsprechend einzustellen, was ihn zugegebenermaßen immer wieder vom Inhalt des Gesagten abgelenkt habe, so daß ihm möglicherweise an manchen Stellen das Unzusammenhängende einer Aussage entgangen sei und er dort, wo er vielleicht hätte nachfassen sollen, um das Unzusammenhängende wenigstens als unzusammenhängend deutlich zu machen, nicht nachgefaßt habe. Immer wieder seien ihm die kleinen Stecker aus den Ohrmuscheln herausgefallen, so daß ihm seine Ohrmuscheln mit einem Mal überdimensioniert erschienen seien und er seine Ohrmuscheln selbst dann habe befühlen müssen, wenn sich die Ohrstöpsel nicht in ihnen befunden hätten. Er habe gegen ein beständig anwachsendes Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf seine Physiognomie ankämpfen müssen und sich immer wieder dabei ertappt, wie er im Glas eines Bilderrahmens oder dem Lack des Wohnzimmerschranks nach seinem Spiegelbild gesucht habe, um an Hand dieser unscharfen Silhouette die Ausmaße seiner Ohrmuscheln zu überprüfen. Auch habe er sein Gegenüber verdächtigt, heimlich die Größe seiner Ohrmuscheln abzuschätzen, entsprechend abgelenkt zu sein und nur deshalb Unzusammenhängendes hervorzubringen.
An diesem Beispiel lasse sich übrigens recht plastisch erkennen, wie das, was man gemeinhin als Modeerscheinungen abtue, tatsächlich den Körper in eine immer größere Knechtschaft zwinge. Industrie und Wissenschaft hätten ihren Ehrgeiz daran gesetzt, alles immer noch kleiner zu machen, ohne daß es für diesen beständigen Schrumpfungsprozeß einen anderen Grund gebe, als den Menschen durch eine Art Gehirnwäsche den Bezug zur eigenen Physiognomie zu rauben. Jede Knechtschaft und Unterdrückung fange mit dem Herausstreichen äußerlicher Merkmale an: Farbe der Haut, Form der Nase, Schnitt der Augen, Beschaffenheit der Haare und so weiter. Erst streiche man diese Unterschiede heraus und dann baue man Gaskammern.
Der Nachteil dieses Systems liege natürlich auf der Hand und habe sich rund um den Globus in sämtlichen Spielarten von Faschismus und Gewaltherrschaft zur Genüge bewiesen. Kapriziere man sich nämlich lediglich auf physiognomische Unterschiede, so gerate man schnell an die Grenzen des Abschlachtens. Die üblicherweise angeführten Gründe, wer doch und weshalb kein Arier sei, obwohl er die entsprechende Physiognomie aufweise, stünden auf wackligen Füßen und könnten eine Diktatur auf Dauer in ziemliche Verlegenheit bringen.
Deshalb habe mittlerweile die Industrie das Ganze in die Hand genommen und kümmere sich hervorragend um das sogenannte Finetuning der faschistischen Grundidee. Die Industrie habe schon immer ein gesteigertes Interesse am Faschismus gehabt und den Faschismus auch mit ganzem Krafteinsatz unterstützt. Aber selbst die Industrie habe den Faschismus nicht vor seinem Ende bewahren können, da der Faschismus letztlich an seinem schwachen ideologischen Gerüst gescheitert sei. Deshalb habe die Industrie sich als erstes von jeglicher anschaulichen Ideologie gelöst. Mit Gaskammern komme man heute nicht weiter. Das sei ein totes Gleis. Eine Sackgasse. Auch mit den genetischen Anlagen sei das so eine Sache. Jetzt, wo das menschliche Genom entschlüsselt sei, könne man natürlich mir nichts, dir nichts neue Unterschiede konstruieren, die sich eben nur wissenschaftlich und dann auch nur an irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma nachweisen ließen. Aber lasse sich allein auf so etwas eine Herrschaft aufbauen? Es sei selbstverständlich unerläßlich, so etwas in der Hinterhand zu haben, aber allein mit irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma lasse sich kein universelles Arbeitslager konstruieren. Die Menschen müßten selbst Ja schreien und dieses Arbeitslager aus ganzem Herzen wollen. Und genau daran arbeite die Industrie. Denn wenn die Menschen etwas aus ganzem Herzen wollten, dann seien das die Produkte der Industrie. Und genau hier setze man an.
Anfänglich habe die technologisch allgemein übliche Praxis, die Dinge immer kleiner zu machen, durchaus noch einen Sinn gehabt. Kleiner sei damals noch synonym mit praktischer gewesen, denn mit einer schwer geschulterten Videokamera habe sich weder der Kindergeburtstag noch der Sturz eines Menschen aus einem Hochhausfenster adäquat einfangen lassen. Mittlerweile jedoch säßen die Menschen da und würden an den Ausmaßen ihrer Fingerkuppen verzweifeln, weil sie die Miniaturdisplays ihrer vielen Aufzeichnungs- und Kommunikationsgeräte nicht mehr bedienen könnten. Die Industrie verteile inzwischen dünne Stäbchen, die den Proportionen der Tastatur zwar besser entsprächen, aber gleichzeitig zu einer Herabsetzung der eigenen Mobilität führten, da man nun nicht mehr fünf, geschweige denn zehn Finger besitze, sondern nur noch ein Stäbchen, das man mit seinen Wurstfingern mühsam umklammert halte. Wolle man mit diesem Stäbchen etwas auf dem glatten Miniaturdisplay notieren, so rutsche dieses Stäbchen beständig ab und mache einen kurzerhand zum Analphabeten, der das eigene Gekrakel nicht mehr entziffern könne. Beständig werde man so auf die Grenzen der eigenen Physiognomie gestoßen, und genau darin bestehe das Prinzip der körperlichen Entfremdung, an dem die Industrie arbeite.
Wenn