Revolution und Heimarbeit. Frank Witzel
nicht um einen Gegenentwurf, sondern um die Verstärkung eben dieser Grundidee durch die Modeindustrie, denn es gehe allein darum, dem Körper die Welt unpassend erscheinen zu lassen, gleichgültig ob er nun zu groß oder zu klein für diese Welt sei. Habe sich das Körpergefühl des Nichtpassens erst einmal allgemein verbreitet und dadurch normativen Charakter erlangt, da man täglich viele hunderte Male mit der eigenen Physiognomie an den Produkten der Industrie scheitere, so stehe der absoluten Knechtschaft nichts mehr im Wege.
In Arlington habe er natürlich noch nicht so weit gedacht. Überhaupt dieses Arlington. Schon das sei so eine Geschichte. Wenn er wenigstens die vierzehn Tage in New York verbracht hätte oder in Los Angeles oder in einer der anderen großen Städte, von denen man irgendeine prägnante Erinnerung mit heim hätte bringen können, obwohl diese Erinnerungen ohnehin nur mit dem verglichen würden, was man zuvor als Bilder von einer solchen Stadt gesehen habe, weshalb es überhaupt ein Wahnsinn sei, immer wieder Reporter und Korrespondenten in die Welt zu schicken, wo sie nichts anderes zu tun hätten, als immer wieder möglichst genau die Bilder einzufangen, die jeder ohnehin schon kenne, aber allem Anschein nach immer wieder sehen wolle.
Es sei alles nur noch zu einem Abgleichen von Bildern verkommen, weshalb er eigentlich froh hätte sein können, in eine Stadt zu geraten, deren Namen er selbst bis wenige Tage vor Antritt seiner Reise noch nicht gehört habe. Gerade weil er noch nie drüben gewesen sei, hätte er die Gelegenheit ergreifen können, einmal dem ewigen Abgleichen der Bilder auszuweichen und selbst und auf eigene Faust etwas zu erleben. Stattdessen habe er sich dem allgemeinen Druck, in den einen das Reisen zwinge, nicht entziehen können. Er habe im Flugzeug gesessen, den Kopf voller Erwartungen und Bilder, und habe so von dem Flug selbst kaum etwas mitbekommen. Auch sein erster Eindruck von Arlington sei mehr als verschwommen gewesen, was natürlich nicht an Arlington selbst gelegen habe, sondern vielmehr an der Tatsache, daß er die Reise nach Arlington, genauer den Flug nach Washington, von seinem letzten Geld bezahlt und folglich keine andere Möglichkeit gehabt habe, als die vollen vierzehn Tage in Arlington und zudem bei einem ihm völlig Fremden, einem flüchtigen Bekannten seines Schwagers, abzusitzen, einem durchaus netten Zeitgenossen und jungen Kerl, Mitte zwanzig maximal, der schon zehn Jahre drüben lebe und damit quasi assimiliert sei.
Im Grunde sei nichts gegen den Jungen einzuwenden gewesen, und wenn er diesen Jungen irgendwo hier in der Gegend getroffen hätte, auf einem Fest etwa oder bei einer anderen Gelegenheit, dann hätte er sich bestimmt sehr angeregt mit diesem Jungen unterhalten, zweifellos, und vielleicht sei das die wirkliche Bedeutung von Entfernung, daß sie dazu zwinge, überwunden zu werden, und daß sich allein in der Konfrontation mit diesem Zwang, nämlich im Überwinden der Entfernung, wenn auch nicht alles, so zumindest einiges verändere.
Wenn man sich extra wegen eines Gesprächs, wegen mehrerer Gespräche, einer ganzen Serie von Gesprächen, eigentlich einer sogenannten Exklusivstory, acht Stunden ins Flugzeug setze und sein letztes Geld für einen Recorder und das Flugticket ausgebe, dann könne das im Grunde nur in einem Desaster enden. Alles, was man mit Hoffnungen belege und mit Wünschen überfrachte, müsse zwangsläufig in einem Desaster enden. Alle Beteiligten seien von solchen Aktionen überfordert. Und gerade wenn alle Beteiligten von solchen Aktionen überfordert seien, endeten solche Aktionen zwangsläufig in einem Desaster. Da alle Beteiligten merkten, daß sie nicht an die Vernunft der anderen Beteiligten appellieren könnten, da sie merkten, daß sie noch nicht einmal mit dem Verständnis der anderen Beteiligten rechnen könnten, die gleichermaßen wie sie selbst überfordert seien mit der Situation, entstehe aus dieser Verzweiflung die Tendenz, sich dem Erstbesten hilfesuchend zuzuwenden. Der Erstbeste sei aber in der Regel derjenige, der mit der ganzen Angelegenheit nicht das Geringste zu tun habe, weshalb der Erstbeste auch gern Ratschläge erteile, überhaupt gern das ganze Geschehen an sich reiße und verkünde, wie es nun weitergehe. Dessenungeachtet seien alle Beteiligten dennoch froh über ein klares Wort, so wie man sich über das klare Wort eines Arztes freue, wenn der Arzt endlich einmal das Wort an einen richte und behaupte, daß man sich ganz auf ihn verlassen könne und er den in diesem Fall nötigen Routineeingriff praktisch im Schlaf auszuführen in der Lage sei. Manchmal seien die Leute so erleichtert über ein klares Wort, daß sich hinter diesem klaren Wort alles mögliche verbergen könne, Aufgabe der freien Meinungsfindung zum Beispiel, Opferung des passiven Wahlrechts, Hergabe einer funktionstüchtigen Niere, obwohl es meistens nur um das hastig an der Wohnungstür ausgefüllte Bestellformular einer Fernsehzeitung gehe.
Hauptsache endlich ein klares Wort, dächten alle Beteiligten und würden ihre Koffer packen und sich zu dem im klaren Wort genannten Termin an einer Sammelstelle einfinden, mit dem befreienden Gefühl, endlich der Zeit der Ungewißheit entkommen zu sein.
Der Erstbeste müsse dabei nicht unbedingt ein Adolf sein. Es müsse niemand sein, der sozusagen in betrügerischer Absicht herumlaufe und Situationen aufsuche, bei denen alle Beteiligten gleichermaßen überfordert seien. Es sei vielmehr jemand, der sich durch eine extreme Wurschtigkeit auszeichne. Es sei jemand, der einfach seiner Wege gehe und dabei an nichts anderes und niemanden anderen denke als an sich. Selbst wenn ihm jemand anderer begegne, denke er immer nur weiter an sich, weshalb er sich in keine Situationen hineinziehen lasse und deshalb auch nicht abwägen und verschiedene Seiten anhören müsse. Ziemlich flott fälle er ein ziemlich beliebiges Urteil, über das alle Beteiligten erst einmal dankbar und froh seien, während sich später herausstelle, daß sie für dieses Urteil, das sie scheinbar aus einer unlösbaren Situation befreie, entsprechend bezahlen müssen, nämlich mit Arbeitslager und Lohnraub und Beschneidung der persönlichen Freiheit, sowie Reisebeschränkung, Einbuße der freien Meinungsfindung und was man sich sonst noch so vorstellen könne. Das nenne man dann schnell Diktatur oder Faschismus, aber in Wirklichkeit resultiere dies alles allein aus der Situation, in der alle Beteiligten überfordert gewesen seien, und solche Situationen entstünden nun einmal aus Hoffnungen und Wünschen, weshalb er sich im allgemeinen nichts wünsche und auf nichts hoffe. Denn wenn man sich etwas wünsche und auf etwas hoffe, so könne dies nur in einem Desaster enden, wofür ihm diese Aktion, diese Reise, dieser Versuch, dem eigenen Schicksal eine Wendung zu geben, wieder einmal als Bestätigung diene.
In diesem einen schwachen Moment allerdings, als sein Schwager ihm von dem jungen Kerl in Arlington erzählt habe, diesem Snake, sei wohl dennoch und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit eine Art Hoffnung in ihm aufgekeimt. Ganz im Verborgenen, so daß er es selbst erst gar nicht bemerkt habe. Und genau diese Hoffnung, dieses Aufkeimen der Hoffnung mache er sich jetzt zum Vorwurf, weil ihn diese Hoffnung dazu gebracht habe, sein letztes Geld dafür zu verwenden, sich einen Recorder zu kaufen und einen Flug nach Washington zu buchen. Dabei hätte er von vornherein wissen müssen, daß man nicht über den Atlantik zu einem wildfremden Menschen fliegen könne, einem Menschen gerade einmal halb so alt wie man selbst, um dann quasi zu diesem Menschen zu sagen: Los, rette mein Leben. Das klinge jetzt natürlich pathetisch, rette mein Leben, und so habe er es auch bestimmt nicht gedacht und schon gar nicht gesagt, aber im Endeffekt sei es doch darauf hinausgelaufen. Schließlich sei das sein letzter Versuch gewesen, zumindest habe er es damals für seinen letzten Versuch gehalten, aber die Tatsache, daß er jetzt schon wieder sechs Wochen zu Hause sei und immer noch dasselbe mache wie vor seiner Reise, spreche für sich und zeige nur allzu deutlich, daß man sich das mit dem letzten Versuch, der letzten Chance, der letzten großen Anstrengung ein für alle Mal abschminken solle und müsse, genauso wie man sich das ewige Wünschen und Hoffen abschminken solle, auch wenn es noch so schwerfalle. Mit Wünschen und Hoffnungen beweise man lediglich, daß man immer noch an die Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit glaube, wobei zu fragen sei, ob diese Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit in Wirklichkeit nicht ebenfalls nur ein Abgleichen von Bildern sei. Ein Abgleichen von Vorstellungen.
So wie jeder irgendein Bild von New York habe oder Los Angeles, so habe eben jeder auch ein Bild von sich selbst, und die Qual des Lebens bestehe eben darin, diesem Bild nicht zu entsprechen. Für manche bestehe die Qual des Lebens noch zusätzlich darin, die Bilder fremder Städte niemals mit dem Original abgleichen zu können. Obwohl es diese Qual tatsächlich kaum noch für jemanden gebe. Dafür sei die Entfernung, gleichermaßen wie das Reisen, zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Ebenso verhalte es sich übrigens generell im gesellschaftlichen Umfeld, denn entweder sei etwas Qual oder bedeutungslos. Wobei es verwunderlich sei, daß man allerorts und wie besessen Zustände anstrebe, wo Zustände doch immer nur