Lash (Gefallener Engel 1). L. G. Castillo
Verglichen mit Jeremy sah Lash aus wie der ewige Teenage-Rebell, weil er zerrissene Jeans und enganliegende T-Shirts bevorzugte.
Lash fragte sich, warum Jeremy beim Pokern letzte Nacht keinen Auftrag in Houston erwähnt hatte. Zum ersten Mal, seit sie vor Jahrzehnten angefangen hatten zu spielen, hatte Lash gewonnen und sie hatten sich prächtig amüsiert – Zigarren rauchend und Whisky trinkend. Erst, als Gabrielle aufgetaucht war und Lash den Auftrag übergeben hatte, war Jeremy ungewöhnlich still geworden. Er schien außergewöhnlich aufgebracht, als er Lash darum bat, einen Schuldschein als Gewinn zu akzeptieren – obwohl Lash sich nicht vorstellen konnte, dass er jemals einen Grund haben sollte, ihn einzulösen. Gabrielle schien ebenfalls in schlechter Stimmung zu sein. Vielleicht hätte er noch einmal darüber nachdenken sollen, ihr Rauch direkt ins Gesicht zu blasen. Das hatte ihr wahrscheinlich nicht gefallen.
Er wollte Jeremy gerade auf der Landebahn Gesellschaft leisten, als Gabrielle in sein Sichtfeld glitt. Sie flüsterte Jeremy etwas ins Ohr und dessen ewig präsentes Lächeln gefrohr. Was auch immer sie ihm erzählt hatte, es konnte nichts Gutes gewesen sein.
Er folgte Jeremys Blick und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf. Weit entfernt sah er einen winzigen Fleck und wusste instinktiv, dass es Flug 1724 war. Er schaute hinüber zu Jeremy und fragte sich, ob dessen Auftrag jemanden auf dem gleichen Flug betraf.
Jeremy nickte Gabrielle zu und verschwand im selben Moment. Angst grub sich wie eine Faust in Lashs Magen, als Gabrielle ihre Arme in die Luft hob und ihre schlanken Hände in Kreisen herumwirbeln ließ. Die Bäume am Rand des Flughafens schwankten, als der Wind zunahm und sich dunkle Wolken zu formen begannen.
Lash presste seine Handflächen gegen die Glasscheibe. Was tat sie da? Er biss die Zähne zusammen und fragte sich, ob sie ihm seinen Job absichtlich erschwerte. Ihm war aufgetragen worden, über Javier zu wachen und sicherzustellen, dass er heil zu seiner Mutter zurückkam. Gabrielle hatte bequemerweise vergessen, ihm zu sagen, dass Javier in echter Gefahr schweben würde – oder die Gefahr von Gabrielle selbst ausgehen würde.
Lash sah zu, während sie fortfuhr, Wind und Wolken zu manipulieren.
»Sieht aus, als ob ein Sturm aufzieht«, sagte eine Frau, die in der Sitzreihe hinter ihm saß.
»Da sieht man mal wieder das texanische Wetter«, sagte der Mann neben ihr. »Im einen Moment der schönste Sonnenschein; man blinzelt, und auf einmal ist die Hölle los.«
Ein lautes Donnergrollen ließ das Glas unter Lashs Händen vibrieren. Er trat zurück, als ein Schauer von Eiskörnern auf den Boden trommelte.
»Gott sei uns gnädig.«, sagte die Frau, während sie eine Hand an ihre Brust presste. »Das war laut.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich hoffe, es ist bald vorbei. Ich würde nicht gern da oben von diesem Sturm erwischt werden.«
Da wusste Lash, weshalb Gabrielle und Jeremy anwesend waren und weshalb er diesen Auftrag erhalten hatte. Nicht alle Passagiere vom Flug 1724 würden Houston lebend erreichen.
Er schloss die Augen und projizierte sich selbst ins Flugzeug. Als er sie öffnete, stand er im Gang neben einem hübschen Mädchen. Ihr blassblondes Haar war hinter ihre Ohren zurückgestrichen und betonte die lebhaften blauen Augen. Sie konnte nicht älter als zwölf sein, aber etwas an ihr ließ sie für ihr Alter weise erscheinen.
Lash blickte zum Fenster hinaus in den Nebel aus Dunkelheit, der das Flugzeug umgab. Um ihn herum murmelten die Passagiere besorgt, als sie hinaussahen. Sie hatten Angst.
Ein schluchzendes Geräusch vom Sitz hinter dem Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit und er trat näher heran. Auf dem Sitz saß ein kleiner Junge, dessen Füße kaum den Boden berührten. Javier.
»Mutter, er hat Angst«, sagte das kleine Mädchen. »Darf ich mich neben ihn setzen?«
Die Frau, eine ältere Version des hübschen Mädchens, nahm nervös einen Schluck von ihrem Cocktail.»Nein, es ist jetzt nicht sicher.« Ein Ruck ging durch das Flugzeug und sie ließ ihr Getränk zu Boden fallen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte auf ihren weißen Leinenanzug. Ihr wich alle Farbe aus dem Gesicht, als sie die Armlehne umklammerte. »Oh, mein Gott.«
Das Mädchen lehnte sich in den Gang und sah nach hinten zu dem kleinen Jungen, der hinter ihr saß. »Aber er ist ganz allein.«
»Tu, was ich sage, oder ich werde es deinem Vater erzählen müssen, wenn wir nach Hause kommen!«, fuhr die Frau sie an, während sie ihre Hose mit einer Serviette abtupfte. »Die Stewardess wird sich um ihn kümmern.«
Lash sah das Mädchen heftig blinzeln und fühlte ein Ziehen in der Brust, als sie ihre Tränen wegwischte. Sie setzte einen entschlossenen Blick auf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen richtete.
»Ist ja okay. Schhhhhh, nicht weinen. Wir werden bald landen«, sagte sie. »Wie heißt du?«
Der kleine Junge sah auf. Braune Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden, begegneten ihrem Blick. Tränen zogen Spuren über seine Pausbacken. »Ja– Javier.« Er schniefte und wischte sich die Nase an der Rückseite seines Hemdsärmels ab.
»Hi, Javier. Ich bin Jane.«
Das Flugzeug machte einen Satz nach unten und Javier hob es für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Sitz, bevor er wieder auf seinen Platz zurückfiel. Er schluchzte..
Lash kniete sich neben ihn und sandte eine Welle aus Gelassenheit aus in der Hoffnung, dass der Junge seine Anwesenheit spüren konnte.
Javier schnaufte, als ob er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Eine blasse Hand streckte sich ihm entgegen.
»Alles wird gut, Javier. Mach dir keine Sorgen. Ich werde deine Hand halten, bis wir landen. Okay?«
Javier sah Jane an. Seine schwarzen Locken wippten, als er nickte.
Lash zerriss es das Herz, als Javier seine Hand ausstreckte und sie in Janes legte. Es war lange her, dass er jemanden so selbstlos hatte handeln sehen. Er sah sich im Flugzeug um in der Erwartung, Jeremy zu sehen. Da er nicht anwesend war, gab es vielleicht noch Hoffnung für das kleine Mädchen und die anderen.
Das Flugzeug bebte heftig und die Stewardessen liefen die Gänge hinunter, um die Fluggäste aufzufordern, ihre Sicherheitsgurte anzulegen. Dann eilten sie zu ihren eigenen Sitzen und schnallten sich selbst an.
Es gab einen lauten Knall, gefolgt vom Kreischen zerreißenden Metalls. Schreie erfüllten die Kabine und gelbe Sauerstoffmasken fielen von der Decke.
Jane ließ Javiers Hand einen Moment lang los, um ihre Maske aufzusetzen und er begann zu weinen. Lash lehnte sich vor und flüsterte: »Hab keine Angst. Ich bin für dich da.«
Javier weinte immer noch laut, als Lash sich über ihn beugte. Er sah hinüber zu Jane, deren zitternde Hände die gelbe Maske über ihr Gesicht zogen. Als sie fertig war, beugte sie sich nach hinten und streckte ihre Hand nach Javier aus. »Setz deine Maske auf!«, rief sie.
Javier ergriff ihre Hand und sah sie mit verständnislosem Gesichtsausdruck an.
Jane blickte ihm direkt in die Augen und zeigte auf das schwebende gelbe Stück Plastik. »Setz sie auf.«
Javier nickte und zog sich die Maske panisch übers Gesicht. Ein lautes Krachen ertönte.
Die Schreie erstarben im Ansatz. Javiers Augen weiteten sich und Jane drehte sich um, um zu sehen, was er anstarrte. Sie gab einen hohen Schrei von sich. Rotes und oranges Flackern wurde von Javiers Maske reflektiert und Lash versteifte sich. Hitze prallte auf seinen Körper. Er drehte sich um, bereit, abzuwehren, was auch immer den Jungen in Gefahr brachte. Sein Magen verkrampfte sich, als eine Woge von Flammen durch den Gang auf sie zurollte.
Lashs Schritte hallten im Saal der Gaben wieder, einem riesigen Raum, in dem die Erzengel die Opfergaben ausstellten, die die Menschen dem Himmel über Jahrhunderte hinweg dargebracht hatten. Gemälde und Skulpturen säumten die Wände. Er hielt vor einem Mahagonischrein an und starrte durch das Glas auf eine winzige Figurine, die eine Abbildung von Gabrielle darstellte. Seine hellen Augen verdüsterten sich, während er sie herausnahm und mit den Händen über den glatten Stein strich. Er brach