Irren ist göttlich. Daniel Sand
finden würde und brach mitten in der Nacht auf.
Einsam stand der Mond am wolkenlosen Himmel und sein Wasserfall stürzte in lautloser Schönheit herab, als Thariel in die nun leere Gasse hinaustrat. In kaum einem Haus brannte noch Licht. Mammama schlief. Zumindest diese Plattform, auf der die Händler und Marktschreier, Gaukler und Bettler täglich um zahlende Kundschaft kämpften. Thariel genoss die Ruhe.
Er schloss die Augen und für einen Moment gelang es ihm, den Regen zu ignorieren, der auf ihn niederprasselte. Mitten in die Stille hinein platzte das Knurren eines Hundes. Thariel drehte sich um und sah, dass das riesige Tier gerade aus der Herberge sprang und sein Spielzeug suchte. Dann stürmte das Biest zähnefletschend los. Es wurde eine gnadenlose Jagd und hätte Thariel nicht die Erfahrung eines Lebens in den Sümpfen gehabt, hätte er den Wettlauf verloren. Es ging Gassen hinauf und hinunter, führte über Müllberge und durch einen Teich und kam erst zum Abschluss, als Thariel zum Treppenhaus rannte und die Tür verriegelte. Es hallte schwer nach, als sich der mächtige Körper des Hundes gegen die Tür warf. Thariel lief hinauf auf die zweite Plattform und ruhte sich auf einer Bank aus.
Erste Sonnenstrahlen legten sich auf die Pflastersteine, als er wieder erwachte. Die zweite Plattform bot einen ganz anderen Anblick als die erste, wie er bemerkte. Hier entspannten die Bewohner von Mammama und trieben Sport. Es schien eine einzige große Parkanlage zu sein. Erste Läufer rannten an ihm vorbei. Auf dem Gras der Ellbogenplätze lag noch der Morgentau. Überall blühten Blumen. Thariel kam an Tennis- und Golfanlagen vorbei und an fantasievoll dekorierten Landschaften. Grüne Hügel luden zum Picknick ein und ein Irrgarten zum Verirren.
Thariel verirrte sich auch prompt und fand erst heraus, als er die Nerven verlor und die liebevoll geschnittene Hecke zerstörte, um durch sie hindurch ins Freie zu klettern. Ein altes Ehepaar beobachtete ihn dabei. »Eine Riesensauerei«, fluchte der Mann.
Längst glühte die Sonne am Himmel, als Thariel sich auf den Weg zum Glasmeister machte. Obwohl er auch auf die anderen Plattformen neugierig war, nahm er die Dienste einer sieben Fuß hohen und einige Tonnen schweren Lastentaube in Anspruch, die Reisende in kürzester Zeit auf jede gewünschte Plattform brachte. Nur die elfte und zwölfte Plattform, die Thromokosch bewohnte, waren tabu und damit es auch wirklich zu keinen Landungen kommen konnte, zogen sich mehrere Reihen spitzer Metallstäbe um diese beiden Plattformen herum. Im Vorüberfliegen konnte Thariel die anderen Plattformen nur für wenige Sekunden erkennen. Dabei ergab sich für ihn folgende Reihenfolge:
Plattform 03 - lange Häuserreihen, hier lebten wohl die meisten Mammamaer.
Plattform 04 – eine Wüste
Plattform 05 – ein Zaubermarkt
Plattform 06 – Museen, Opern und der Stadtzirkus
Plattform 07 – der Sklavenmarkt, hierhin hätte Nichtadmiral Nelson ihn wohl gebracht
Plattform 08 – eine Kaserne
Plattform 09 – Der Tempel zu Ehren von Thromokosch
Als er auf Plattform 10 aus dem Korb stieg14, stand er vor einem hohen, grauen Gebäude, das praktisch die ganze Plattform ausfüllte, die hier oben allerdings auch kaum noch Fläche einnahm. Nichts an der Außenfassade hatte etwas von dem Pompösen und Farbenprächtigen, das die restliche Stadt auszeichnete. Das Grau wurde nur hin und wieder von kleinen Fenstern unterbrochen, die wie misstrauische Augenpaare die Besucher zu beobachten schienen. Das Gebäude sah aus wie ein überdimensionaler Würfel. Thariel lief eine breite Treppe hinauf zum Eingang. Zwei Soldaten hielten Wache, beide in grauen Rüstungen mit grauen Umhängen und grauen Helmen mit einem Kamm aus grauen Grauhuhnfedern. Neben ihnen standen graue Schilder und ebensolche Speere. Am grauen Gürtel hing ein graues Schwert.
»Haben Sie einen Termin?«
Mit dieser Frage verstellte die größere der beiden Wachen den Weg.
»Nein, ich muss aber mit dem Glasmeister sprechen.«
Der kleinere der Wächter lachte laut auf: »Da könnte ja jeder kommen.«
»Was ist das?«, der Große deutete mit dem Speer auf die Regenwolke. Er hatte ein rötliches und pausbackiges Gesicht, das seine Augen etwas zusammendrückte.
»Deswegen muss ich ja mit dem Glasmeister sprechen. Es ist eine Verfluchung, keine Ahnung warum.«
»Du hast was angestellt«, zischte ihn der Kleine an, den vor allem eine hervorspringende Nase auszeichnete und die etwas zu hohe Stimme.
»Ich wüsste nicht, was.«
»Hmm«, der Große kratzte sich nachdenklich mit der Speerspitze am Doppelkinn.
»Der hat was angestellt«, wiederholte der Kleine.
Mittlerweile hatten andere Lastentauben weitere Gäste nach oben gebracht. Treue Pilger aus dem ganzen Land, die Thromokosch dafür danken wollten, dass es ihn gab.
»Durchgehen«, forderte der Kleine die Religiösen mit seiner anstrengenden Stimme auf. Als sie die Regenwolke entdeckten, buhten sie und riefen »Ketzer!« und »Gefallener!« und wieder einmal »Elf!« Drei von ihnen versuchten sich sogar auf Thariel zu stürzen, was die beiden Wächter nur mit Mühe verhindern konnten.
»Durchgehen!«, forderte der Kleine die Pilger jetzt mit überschlagender Stimme auf.
»Die hatten einen Termin«, meinte er dann mit verschlagenem Grinsen zu Thariel.
»Ich bin wirklich weit gereist, um mit dem Glasmeister zu sprechen!«, erklärte Thariel.
»Hör mal zu«, der Große legte seine schwere Hand auf Thariels Schulter, »wir lassen dich ausnahmsweise durch, aber beim nächsten Mal brauchst du einen Termin!«
»Und lebe ein ehrliches Leben«, gab ihm der Kleine noch mit auf den Weg, »dann verflucht Thromokosch dich auch nicht.«
Thariel überhörte die Provokation und durchschritt die zwölf Meter hohe Eingangstür. Schon einen Moment später rannte er wieder hinaus, auf der Flucht vor den Pilgern, die gerade aus dem Gebäude eilten. Sie hatten im Glasmeistergebäude nur ein kurzes Gebet für den Glasmeister gesprochen, bevor es jetzt zur Thromokoschvilla weiterging.
Es kam zu erneuten Beschimpfungen, bevor die Gruppe heilige Lieder singend im Treppenhaus der Turmstadt verschwand, wo ihnen ein weiterer Wächter die vergitterte Türe hinauf zur Thromokoschvilla öffnete.15 Erst danach wagte es Thariel, wieder hinter den beiden Wächtern hervorzutreten, bei denen er Schutz gesucht hatte. Er bedankte sich, aber beide taten so, als würden sie ihn gar nicht wahrnehmen.
Das Glasmeistergebäude war karg eingerichtet, es gab nicht ein Gemälde an den hohen grauen Wänden. Jeder Schritt hallte nach, Thariel fühlte sich hier so wohl wie in einer Ruine. Direkt hinter der Eingangstür folgte eine viel zu große Halle, die man wiederum durch Flure verlassen konnte, die unter den mächtigen Wänden aussahen wie Mauselöcher. In der Mitte der Halle stand ein kleiner Tisch, an dem eine junge Frau saß. Sie hatte ihr blonde Haar streng nach hinten gekämmt und übersah Thariel so lange es ging.
»Verzeihung, wo geht es hier zum Glasmeister?«
Genervt blickte die Frau auf und ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen: »Ich muss ihnen das nicht sagen!«
»Aber das ist doch ihr Job«, meinte Thariel.
»Nein!«, säuselte sie, »aber ich will mal nicht so sein«.
Sie blickte zu einer Tür an der Wand.
»Da rein, da kommt ein Flur und im Flur die erste Tür links nehmen, dann kommen Sie wieder in einen Flur, da die erste Tür rechts nehmen, dann kommen Sie wieder in einen Flur, dort wieder die erste Tür links, dann wieder rechts, dann links, dann rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links. Und dann sind Sie da! Wenn Sie einmal die falsche Tür nehmen, stürzen Sie durch ein Loch im Boden die zwölf Plattformen