Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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lege mich ins Bett, wenn ich wieder gesund bin, ist das da oben weg«, kündigte Thariel an und schleppte sich die Treppe hinauf, ohne dass Lydia ihm dabei half.

      Kurz darauf lag er da und lauschte auf den Regen über seinem Kopf. Doch der machte keinen Lärm. Es regnete geräuschlos. Irgendwann gelang es Thariel tatsächlich einzuschlafen.

      Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch als er aufwachte, wollte er sofort aufstehen und in den Spiegel schauen. Aber vor dem Bett saß Lydia und schüttelte nur den Kopf. Da ließ er sich wieder auf den Rücken fallen. Er fragte sich, wie die Dorfbewohner wohl reagieren würden, wenn er sich ihnen mit einer Regenwolke präsentierte. Am besten würde er so tun, als sei das vollkommen normal. Aber er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Menschen reagierten im Allgemeinen sehr misstrauisch auf plötzliche Veränderungen. Ganz besonders in abgelegenen Sumpfdörfern, wo jede Veränderung als Bedrohung betrachtet wurde.

      Lydia und er versuchten sich ganz normal zu unterhalten. Sie vermieden es dabei, die schlimmste Möglichkeit auszusprechen, dass es sich doch um einen, nun ja … um einen … wenn es sich um so was handeln würde. Solche Bestrafungen nahm Gott Thromokosch nämlich persönlich vor.

      »Du hast aber wirklich nichts angestellt, oder?«, fragte Lydia und schaute Thariel tief in die Augen.

      Er schüttelte den Kopf.

      »Wir müssen zu meinem Vater gehen!«

      »Auf keinen Fall«, kam es entsetzt zurück und Thariel verschränkte die Arme.

      »Wir haben doch schon was mit Kräutern ausprobiert.«

      »Mein Vater hat ganze Regale mit Cremes, Wurzeln, Knäueln, Mehl, Kräutern, Blättern, Wassern, Sand, Pfeffer, Gewürzen und Disteln. Er hat bestimmt ein Gegenmittel!«

      »Ich weiß nicht«, blieb Thariel unschlüssig.

      »Es ist wirklich toll, was er alles heilen kann. Vor kurzem hatte er eine Elchfee im Wald gefunden, verletzt und dem Tode nahe. Er schleppte das schwere Wesen zu uns und braute ein Heilmittel zusammen. Schon am nächsten Mittag konnte die Elchfee wieder entlassen werden.«

      »Ach, dann hat sie euren Gartenzaun niedergetrampelt?«

      »Ja, und jetzt komm! Wer weiß, vielleicht wird eine Heilung immer schwerer, je länger man wartet.«

      Immer noch zaudernd, ergriff er die ausgestreckte Hand und sie machten sich auf den Weg.

      Torsten Sampftmeier war ein ruhiger und freundlicher Witwer, leicht übergewichtig und etwas gedrungen. Er blickte aus fröhlichen Augen in die Welt hinaus. Als Kräuterhansel genoss er viel Ansehen im Ort. Seine Tochter und Thariel huschten zwischen dem Wolkenwald und den Rückseiten der Häuser entlang, um nicht gesehen zu werden. Als sie schließlich vor der Tür standen und anklopften, hielt Lydia Thariels Hand und flüsterte ihm erleichtert ins Ohr.

      »Jetzt wird alles gut!«

      Er nickte.

      Schritte näherten sich, die Türe wurde geöffnet und der mächtige Leib von Herrn Sampftmeier, wie immer in einen großzügigen, weißen Kittel gehüllt, erschien.

      »Papa, wir haben ein Problem«, begann Lydia und kam nicht weiter, weil ihr Vater sofort zu schreien begann, als er die Regenwolke sah. Er zog seine Tochter zu sich und weil sie und Thariel sich noch an den Händen hielten, stieß er ihn weg.

      »Du wirst unser Haus nicht mehr betreten, bis das geklärt ist! Und du wirst meine Tochter nicht mehr sehen, bis das geklärt ist!«, brüllte er mit wutrotem Kopf.

      Thariel stolperte und fiel in eine Pfütze. Die Tür knallte zu.

      Er stand nicht sofort wieder auf, sondern stellte erstaunt und entsetzt fest, wie schnell ein Dorf zum Geisterdorf werden kann. Als die Bewohner die Regenwolke sahen, reagierten die Mütter am schnellsten. Hektisch zerrten sie ihre verdutzten Kinder in die Häuser, als nächstes packten die Waschweiber und Sumpfangler ihre Sachen und verschwanden ebenfalls hinter zuschlagenden Türen. Als schließlich auch die Pilzsammler und Himmelwald­gänger zu ihren Familien eilten, gab es schon keine Fenster mehr, vor denen keine schweren Vorhänge hingen. Über dem dampfenden Sumpf strahlte die Sonne blass durch die Nebel, keine Wolke stand am Himmel und dennoch regnete es unaufhörlich auf Thariels Kopf. Lydia stand am Fenster und warf ihm einen Handkuss zu, als er zu ihr aufblickte. Kurz darauf war der Vorhang zugezogen.

      Was sollte er jetzt machen? Aus den ersten Häusern flog faules Obst in seine Richtung. Ein Ei zerplatzte an seiner Schulter. Auf einmal traten zwei Wesen zwischen den Häusern hervor. Sie steckten in braunen Anzügen, die nur zwei kleine Sehschlitze hatten. Das eine Wesen trug ein Netz, das andere eine lange Stange, an deren Ende eine Schlinge angebracht war, wie man sie beim Einfangen der Schafe benutzte, wenn sie mal wieder ausgebrochen waren ... Jetzt verstand Thariel! Er sprang auf und in diesem Moment fingen auch die beiden Gestalten an zu rennen.

      »Bleib stehen!«, schrie einer und Thariel erkannte die Stimme. Es war der Schuster Reubig, der ihn da zusammen mit einem anderen Bewohner einfangen wollte. Thariel rannte aus dem Dorf hinaus und hörte plötzlich ein seltsames Surren in der Luft, das er sich erst erklären konnte, als das mit kleinen Steinen beschwerte Netz direkt neben ihm gegen einen Feuerpilz krachte, aus dem daraufhin etwas Lava quoll. Thariel verstand die Welt nicht mehr, Reubig hatte ihm gerade gestern noch eine zerbrochene Vase gebracht und ihn für heute zum Sumpfangeln eingeladen. Statt mit ihm zusammen am Ufer zu sitzen, wurde er nun von ihm gejagt. Er achtete kaum darauf, wohin seine Füße traten, die ihn immer tiefer ins Moor führten. Nur weit weg von diesem Netz und dieser Schlinge. Bäume, Wurzeln, Sumpf und Pfad verschwammen, wurden zu einem und dann wieder zu vielen. Irgendwo dampfte es, irgendwo knurrte es, irgendwo schnappte etwas nach ihm.

      Thariel schaute sich kurz um und in diesem Moment rutschte er auf einer Schneekastanie aus und fiel einen Abhang hinunter, direkt in den wabernden Sumpf hinein, der ihn gierig schmatzend festhielt und bei jedem Befreiungsversuch mehr in die Tiefe zog. Er fühlte den grünen Schlick schon an seinem Kinn und roch die Fäulnis des toten Gewässers. Er wurde noch weiter hinab gezogen und sein Mund verschwand im Morast. Längst hatte er den Kampf verloren und konnte nur noch seinen Kopf so halten, dass seine Nase möglichst lange über der Oberfläche blieb. Sein linker Arm ragte wie ein Ast hervor, der stumm nach Hilfe rief. Dann machte es einen weiteren Ruck und Thariel tauchte ganz unter. Nur noch seine Hand war zu sehen und vielleicht seine Regenwolke, wie er voller Bitterkeit dachte. Graue Algen streichelten um sein Gesicht, während ihm die Luft ausging. Ihm wurde schwarz vor Augen und er konnte spüren, wie er das Bewusstsein verlor.

      Das war das Ende …

      Eine mächtige Pranke, die nicht zu einem Menschen gehörte, griff seine Hand und zog ihn mit schierer Kraft aus dem Sumpf, der sich heftig dagegen wehrte, seine sicher geglaubte Beute freizugeben. Kaum, dass Thariel am glitschigen Ufer saß und noch schwer atmete, wurde er schon wie ein Sack Kartoffeln auf die Schulter seines Retters geworfen, der stumm und mit langen, schweren Schritten durch die Sümpfe schritt. Thariel bekam von der Wanderung nicht viel mit, da er vor Schwäche immer wieder ihn Ohnmacht fiel. Irgendwann erreichten sie eine kleine Lichtung und Thariel wurde abgesetzt. Er war über und über mit grauen Algen bedeckt, die er nur mühsam und nicht allzu erfolgreich, entfernte.

      »Was machst du nur für Sachen, Junge!«, sprach der Retter mit tiefer Stimme, in der kein Groll zu hören war, sondern nur Sorge. Erst als er diese Stimme hörte, kam Thariel wieder richtig in dieser Welt an. Es war Günter der Golem, der ihn gerettet hatte. Er bewachte das Dorf in der Nacht und dafür vertrieben ihn die Bewohner nicht bei Tag. Niemand wusste, wer zuerst hier gelebt hatte, er oder die Menschen. Für ihn sprach, dass sich kein Mensch an eine Zeit vor Günter dem Golem erinnern konnte, aber andererseits dauerte ein Golemleben auch länger als drei Menschengenerationen und es war nicht auszuschließen, dass die Ururgroßeltern der heutigen Bewohner ihn eines Tages willkommen hießen. Im Grunde spielte es keine Rolle, aber »Und was war zuerst da, Golem oder Mensch?« gehörte neben »Wie findest


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