Kalte Nacht. Anne Nordby
ruft sie unsicher. »Bist du das?«
11
Als Skagen spät am Abend seine Zwei-Zimmer-Wohnung im Schanzenviertel aufschließt und ihm dickflüssige, saunaähnliche Luft entgegenschwappt, wird seine Laune schlechter, als sie eh schon ist. Vom Treppensteigen klitschnass geschwitzt wirft er seine Umhängetasche aufs Sofa und reißt sämtliche Fenster auf, um die Chance auf einen möglichen Lufthauch nicht zu verpassen. Von der Straße schallen lautes Gelächter, Gläserklirren und Gespräche zu ihm herauf. Ein ganz normaler Sommerabend auf der Schanze. Es gibt nicht viele Polizisten, die gerne in diesem Viertel wohnen, wo einem die Kundschaft quasi täglich über den Weg läuft, aber Skagen hat kein Problem damit.
Er zieht sich um und trinkt eiskaltes Wasser, bis seine Stirn schmerzt. Danach setzt er sich mit T-Shirt und Sporthose bekleidet auf einen Stuhl vor eines der Fenster. Leider hat er keinen Balkon, auf dem er der Backofenhitze in der Mansardenwohnung entfliehen könnte. Da hilft nur eines: nicht bewegen.
Draußen ist die Sonne bereits untergegangen, trotzdem will kein Lüftchen zu ihm hereinwehen. Unablässig strömt Skagen der Schweiß über die Haut. Normalerweise wäre er zu einer nächtlichen Joggingrunde aufgebrochen, um den Druck loszuwerden, der sich in ihm aufgebaut hat. Doch dafür ist es viel zu heiß. Wenn er nicht an einem Hitzschlag sterben will, muss er sich etwas anderes überlegen, um die hartnäckigen Erinnerungen an Karlskrona abzuschütteln. Leider steht alles glasklar vor ihm. Und damit auch der Schmerz, den die Schuld tief in seinem Innern pulsieren lässt. Dabei hat er in den vergangenen Jahren so hart daran gearbeitet, dieses Gefühl zu bewältigen. Hat sich bemüht, damit zu leben und sich nicht mehr davon beeinflussen zu lassen. Und obwohl Maja eigentlich ein schöner Teil seiner Erinnerungen sein sollte und sie rein gar nichts mit dem zu tun hat, was damals auf See passiert ist, hat es sich durch sie doch wieder in den Vordergrund gedrängt. Das ewige Zerren der Schuld und die selbstzerfleischende Frage, warum er noch am Leben ist und andere nicht.
Skagen betrachtet die Tätowierung auf seinem Unterarm.
Alfred, Julia, Sam, Xaashi.
Die Namen der Toten von der Signe Merkur. Dem Schiff, das sein Leben verändert hat und ihn bis in alle Ewigkeit begleitet. Bis zu dem Tag, an dem er ihnen folgen würde.
Alfred, Julia, Sam, Xaashi … Tom.
Ein erneuter Kälteschauer packt ihn und lässt ihn am ganzen Körper zittern.
Was ergibt das alles noch für einen Sinn? Dieser ewige Kampf ums Vergeben und Vergessen und darum, dabei nicht unterzugehen.
Es ist hoffnungslos. Wenn allein ein einziges Telefonat alles zunichtemachen kann. Wenn praktisch jede Stimme aus der Vergangenheit seinen mühsam aufrechterhaltenen Schutzmechanismus zum Einsturz bringt.
Skagen wird übel und er schlingt die Arme um seinen Leib. Die Haut auf seinen Wangen spannt sich und der Schweiß auf seinem Gesicht fühlt sich kalt an, genau wie die Panik in seinem Magen, die sich wie tausend Nägel in seine Eingeweide bohrt.
Keuchend beugt er sich vor und presst beide Unterarme fest auf seinen Bauch. Eigentlich müsste er jetzt Evelyn anrufen. Seinen PTBS-Engel. Als seine Therapeutin wüsste sie, was zu tun wäre, doch leider ist sie gerade im Urlaub. Und irgendwie kommen Skagen die vielen Stunden, die sie gemeinsam an seinem Trauma gearbeitet haben, mit einem Mal nutzlos vor. Vollkommen umsonst hat er all seine Kraft in die Hoffnung gesteckt, dass er es schaffen könnte.
Es schaffen!
Ein bitteres Lachen dringt aus seinem trockenen Mund und bringt einen neuen Schwall Übelkeit mit sich. Es dauert einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hat und er normal atmen kann. Eine solch schwere Angstattacke hatte er schon lange nicht mehr.
Wenn das jemals vor seinen Kollegen im Büro passieren sollte, würde er seinen Job verlieren.
Skagen wirft einen Blick zu seinem Handy hinüber. Selbst wenn Evelyn seinen Anruf annehmen würde, was könnte sie tun? Skagen hört ihre Stimme in seinem Ohr: »Du hast einen Rückfall, ausgelöst durch einen Trigger. Das ist nicht schlimm, Tom, wirklich. Versuch, ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten.«
Nicht in Panik geraten! Erneut muss Skagen lachen. Wie soll das gehen, wenn doch alles keinen Sinn mehr hat? Wenn da nur noch diese allumfassende Leere in ihm kauert. Skagen spürt, wie müde er ist. Müde vom Leben.
Schon einmal war er an diesem Punkt. Hat mit beiden Füßen auf der Reling der Signe Merkur gestanden und wollte springen. Wollte alldem ein Ende bereiten.
Ein Schluchzen zwängt sich schmerzhaft durch seine Kehle, doch er presst hart die Lippen aufeinander. Abermals erklingt Evelyns Stimme in seinem Kopf: »Die Panik ist nicht dein Feind, Tom. Sie ist eine Reaktion deines Körpers. Etwas, das du mit deinem Willen kontrollieren kannst. Du musst es nur zulassen, musst akzeptieren, dass es ein Teil von dir ist. Auch wenn dieser Teil dir Schmerzen bereitet. Umarme deine Angst, und sie kann dir nichts mehr anhaben.«
Aber Skagen hat keine Kraft mehr. Keine Kraft, noch irgendetwas zu umarmen außer den Gedanken an Erlösung. Hinter seiner Stirn pocht es, und erneut packt ihn der Schwindel.
Ich kann nicht mehr.
Von der Straße dringen die Stimmen der Kneipengäste zu ihm herauf. Sie klingen fröhlich und unbeschwert. Nach einer Welt ohne Angst. Aber dort würde er niemals wieder hingelangen. Was Evelyn ihm immer in solchen Situationen sagt, ist eine Illusion. Die Angst umarmen. Wie soll das gehen?
Skagen blickt zum offenen Fenster hinüber.
Es ist ganz einfach.
Er steht auf und klettert aufs Fensterbrett. Weit unter ihm glimmen die Laternen und der dunkle Asphalt der Straße wartet auf ihn.
12
Tina weiß nicht, wie lange sie schon um Hilfe ruft, ihre Stimme ist kurz davor, zu versagen.
»Hilfe! Hört mich denn keiner? Bitte, ich will hier raus!« Mehr ein Krächzen als ein ernstzunehmender Schrei, viel zu leise, als dass er nach draußen dringen könnte. Außerdem ist sie durch das Rufen durstig geworden. Ihre Zunge klebt am Gaumen und ihre Kehle ist voller Schleim, von dem sie dauernd husten muss. Was wiederum dafür sorgt, dass die Schmerzen in ihrem Schädel immer wieder neu aufflammen.
Keuchend lässt Tina den Kopf sinken. Der Geruch nach Erde ist überwältigend. Ihr ist kalt, so kalt. Immerhin ist mittlerweile ihr rechter Arm aufgewacht, weil sie die Hände permanent öffnet und schließt.
Eine erste Erinnerung streift sie. Doch sie lässt nicht zu, dass sie sich voll entfaltet. Weil es nichts Gutes ist. Wenn sie bloß mit der Polizei reden könnte, dann würde sie alles erzählen. Aber jetzt kann sie sich dem nicht stellen.
Kraftlos bringt Tina einige Rufe hervor. »Hilfe. Hilfe. Hilfe.«
Dann ist ihre Stimme plötzlich weg, und Tina schließt den Mund. Lange liegt sie da, hört ihrem eigenen Atem zu und wünscht sich, sie hätte einen einzigen Schluck Wasser.
Wieder tauchen Fetzen von Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf. Tina kneift fest ihre Augen zu, sie will nicht daran denken. Ihr Körper verkrampft sich, als wehre auch er sich gegen die Bilder, die vor ihr auftauchen.
Sie stößt ein Wimmern aus.
Nein, nein, geht weg. Ich ertrage das nicht. Geht weg!
Doch anstatt zu verschwinden, werden die Visionen deutlicher. Tina beginnt zu weinen. Sie kann das nicht sehen. Nicht jetzt, nicht morgen, nicht in diesem dunklen Loch. Es ist zu furchtbar.
Sie wendet sich hin und her, in der Hoffnung, dass der Schmerz erwacht und die Erinnerungen verscheucht. Sie muss verhindern, dass alles zu ihr zurückkommt. All ihre Fehler. Ihr Versagen. Es interessiert sie nicht, wer sie in diesem Loch eingesperrt hat. Alles, was sie sich wünscht, ist, dass in ihrem Kopf Ruhe herrscht. Nur für einen Augenblick. Damit sie schlafen kann.
Tina hört auf zu wimmern und wartet auf die erlösende Leere des Schlafes, der Ohnmacht, des Todes. Egal was. Hauptsache, sie muss