Schlusslichter. Georges Simenon

Schlusslichter - Georges  Simenon


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Nachbarn auf sich zu lenken.

      »Fünfundvierzig Millionen Männer und Frauen, losgelassen auf unsere Straßen!«

      Für ihn schien das plötzlich eine echte Erkenntnis zu sein, und er stellte nun allen Ernstes seine Überlegungen an, während er den dunkelhaarigen jungen Mann zu seiner Linken ansah.

      »So ein Schauspiel bekommt man in keinem anderen Land der Welt zu sehen! Vierhundertfünfunddreißig Tote bis Montagabend!«

      Jetzt gab er endlich seinem Impuls nach und tippte dem Mann sachte auf die Schulter.

      »Trinken Sie einen mit mir?«

      Der andere wandte sich zu ihm um, gab aber keine Antwort. Doch Steve ging darüber hinweg und rief den über sein winziges Radio gebeugten Wirt herbei.

      »Zwei!«, sagte er und streckte zwei Finger in die Höhe.

      »Zwei was?«

      »Fragen Sie ihn, was er möchte.«

      Der junge Mann schüttelte den Kopf.

      »Zwei Rye!«, sagte er beharrlich.

      Er war nicht gekränkt. In der letzten Bar war er auch nicht darauf eingegangen, als er angesprochen worden war.

      »Verheiratet?«

      Sein Nachbar hatte keinen Ring am Finger, aber das hatte nichts zu sagen.

      »Also ich, ich habe eine Frau und zwei Kinder, ein Mädchen von zehn und einen Jungen von acht. Beide sind in einem Feriencamp.«

      Der andere konnte keine Kinder in dem Alter haben, dazu war er zu jung. Er war höchstens drei- oder vierundzwanzig. Wahrscheinlich war er noch nicht einmal verheiratet.

      »Aus New York?«

      Jetzt kam immerhin eine Reaktion: Der andere schüttelte den Kopf.

      »Bist du aus der Gegend hier? Providence? Boston?«

      Der andere machte eine vage Geste, die alles bedeuten konnte.

      »Das Verrückteste ist, dass ich Rye eigentlich überhaupt nicht mag. Magst du Rye? Ich möchte mal wissen, ob es Leute gibt, die ihn wirklich mögen.«

      Er hatte gerade sein Glas geleert und wies auf das des anderen, der seines nicht angerührt hatte.

      »Du willst keinen? Macht nichts. Wir sind in einem freien Land! Ich nehm es dir nicht übel. Vielleicht würde ich an einem anderen Abend auch nichts trinken, selbst wenn ich noch was dazubekäme. Aber heute Abend bleibe ich beim Rye. Das ist nun mal so. Und im Grunde ist es die Schuld meiner Frau.«

      Von einem Mann, der so daherredete wie er jetzt, hätte er sich unter normalen Umständen ferngehalten. Das wurde ihm zwischendurch ein paarmal blitzartig klar, und er schämte sich deswegen.

      Dann fiel ihm jedoch wieder ein, dass dies die Nacht seines Lebens war, und das musste er seinem Nachbarn mit den abgespannten Gesichtszügen unbedingt erklären.

      Vielleicht hatte er auch eine Krankheit und trank deswegen nicht viel? Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, und ein nervöses Zucken seiner Unterlippe versetzte der Zigarette im Mundwinkel immer wieder einen kleinen Stoß. Steve fragte sich sogar, ob er Rauschgift nahm.

      Das hätte ihn enttäuscht. Drogen aller Art, ob Haschisch oder Heroin, flößten ihm Angst ein. Bei Louis beobachtete er immer mit einer Mischung aus Verlegenheit und Entsetzen eine sehr junge hübsche Frau, die als Modell arbeitete und angeblich drogensüchtig war.

      »Wenn du nicht verheiratet bist, hast du dir die Frage vielleicht noch nie gestellt. Dabei ist sie sehr wichtig. Man redet über alles Mögliche, was man für bedeutend hält, traut sich aber nicht, das Eigentliche anzusprechen. Nimm den Fall meiner Frau. Hab ich recht oder etwa nicht …?«

      Er hatte nicht den richtigen Ansatz gefunden und den Faden verloren. Außerdem hatte er nicht das Wesentliche zum Ausdruck gebracht. Es hatte etwas mit Frauen zu tun, zugegeben, aber nur indirekt. Was er auszudrücken versuchte, war kompliziert und so tiefsinnig, dass er die Hoffnung aufgab.

      Manchmal kamen ihm zehn Sätze gleichzeitig auf die Lippen, er hatte zehn Gedanken auf einmal, die alle auch ihren Platz in seiner Argumentation hatten. Aber sobald er ein paar Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er sich etwas schier Unmögliches vorgenommen hatte.

      Das entmutigte ihn.

      »Noch mal dasselbe, Chef!«

      Er war einem Wutausbruch nahe, als er sah, dass der Wirt sich überlegte, ob er ihm nachschenken sollte.

      »Sehe ich etwa so aus, als wäre ich betrunken, oder wie jemand, der Rabatz machen will? Ich rede ganz ruhig mit dem jungen Mann hier, ich bin nicht laut …«

      Er bekam seinen Schnaps und lachte befriedigt auf.

      »Na also! Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei den Frauen und der Straße. Das ist der springende Punkt. Merk dir das. Einerseits die Frauen, andererseits die Straße, verstehst du? Denn die Damen bleiben immer schön auf den Schienen. Sie wissen eben, wo’s langgeht. Schon als kleine Mädchen wissen sie, wo sie einmal ankommen wollen, und wenn man ihnen abends auf dem Heimweg einen Kuss gibt, denken sie schon ans Hochzeitskleid. Stimmt’s vielleicht nicht?

      Übrigens, ich will da gar nichts miesmachen. Das ist ganz einfach naturgegeben.

      Die Frauen und die Schienen.

      Die Männer und die Straße.

      Denn die Männer haben, egal, was sie tun, hier drin ein …«

      Er schlug sich voller Überzeugung gegen die Brust und verhedderte sich vollends in den Windungen seiner Argumentation. Ihm wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen.

      »Die Männer …«, wiederholte er angestrengt.

      Er hätte gern erklärt, was Männer brauchten und was ihnen verwehrt blieb. Und gerade das war so schwierig. Es ging gar nicht darum, eine bestimmte Menge Rye zu trinken, wie Nancy ironisch gesagt hätte. Der Rye hatte keinerlei Bedeutung. In einer Nacht wie dieser, einer denkwürdigen Nacht, in der fünfundvierzig Millionen Autofahrer auf den Straßen dahinrollten, kam es darauf an, zu verstehen. Und um zu verstehen, muss man unbedingt runter von den Schienen.

      So wie vorhin, als er die andere Bar betreten hatte! Wo sonst hätte er einen Mann wie den treffen können, den er dort kennengelernt und mit dem er sich ohne Worte verstanden hatte? In seinem Büro bestimmt nicht. Auch in seinem Büro, bei World Travellers, wurden Meilen verkauft – Flugmeilen. Flugreisen in der Luxusklasse, Tickets nach London, Paris, Rom und Kairo. An jeden Ort auf der Welt. Und jeder Kunde hatte es eilig. Für jeden war es unerlässlich und von allergrößter Wichtigkeit, sofort abfliegen zu können. Bei Schwartz & Taylor auch nicht. Dort verkauften sie Werbung, Magazinseiten, Minuten im Radio oder Fernsehen und Plakatflächen am Straßenrand.

      Noch nicht einmal bei Louis, wo um fünf Uhr Gäste seines Schlags ankamen, um sich mit einem trockenen Martini aufzumöbeln.

      Er hatte plötzlich Lust auf einen Martini, war aber sicher, dass der Wirt ihm das abschlagen würde, und er wollte vor seinem neuen Freund keine Abfuhr einstecken.

      »Es gibt eben die Leute, die sie verlassen, und die anderen, die’s nicht schaffen. Punkt, Schluss!«

      Er war immer noch bei den Schienen. Auf Genauigkeit legte er keinen Wert mehr. Zwischendurch verschluckte er manchmal ein Wort, das schwer auszusprechen war.

      »Also ich habe sie heute Nacht verlassen.«

      Sein Freund aus der letzten Bar hatte sie vermutlich für immer verlassen. Vielleicht auch der Mann, der mit der Hand vor der Sprechmuschel in der ersten Bar seine mysteriöse telefonische Mitteilung durchgegeben hatte.

      Und dieser hier? Steve hätte ihm zu gern diese Frage gestellt und zwinkerte ihm aufmunternd zu, damit er etwas von sich erzählte. Er war kein Büromensch, arbeitete aber auch nicht auf einem Bauernhof, das war ihm trotz seiner groben Schuhe anzusehen. Vielleicht eine Art Landstreicher, der ohne Geld in der Tasche Autostopp


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