So große Gefühle!. Anselm Grün
wandelt also die Gefühle des Vaters um: Angst soll zu Vertrauen werden. Er soll nicht nur an Gott glauben, sondern auch an sein Kind. Er soll dem vertrauen, was sich in diesem gerade bewegt. Väter haben oft die Tendenz, ihre Töchter zu kontrollieren. Doch das lässt diese nicht leben. Jesus traut dem Vater nun zu, dass der seine Kontrollwünsche aufgibt und seine Tochter frei ihre eigene Form finden lässt.
Markus erzählt weiter von den Emotionen der Verwandten. Sie weinen und jammern. Doch als Jesus ihnen sagt: »Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur«, da lachen sie ihn aus. Ihre Gefühle schlagen ins Gegenteil um. Doch Jesus lässt sich davon nicht beeindrucken. Er fasst das Kind an der Hand und sagt zu ihm: »Mädchen, ich sage dir, steh auf!« (Mk 5,41) Und sofort steht die Tochter des Jairus auf und geht umher. Jesus bringt also das, was scheinbar unter der Decke der Gefühllosigkeit im Mädchen geschlummert hat, wieder zum Leben. Es ist ein wichtiges Wort, das Jesus zu der Tochter sagt: »Steh auf!«
KRAFT UND ZUVERSICHT VERMITTELN
Für das Kind ist es eine einschneidende Erfahrung, wenn es sich langsam selbst aufrichtet. Es möchte aufstehen, doch dann fällt es immer wieder hin. Manche Kinder verlieren in solchen Situationen ihren MUT. Da braucht es die Eltern, die immer wieder ermutigen: »Steh auf! – Du kannst stehen. Du hast Kraft in dir.« In diesem Befehl spürt das Mädchen die Emotion Jesu, die zugleich von Kraft und von Liebe geprägt ist. Und es ist ein Gefühl von Klarheit. Jesus redet nicht um den heißen Brei herum. Er sagt klar: »Steh auf!« Und das Mädchen spürt diese klare Kraft, die Zuversicht und die Hoffnung, die vom Wort Jesu ausgeht. Sie traut sich aufzustehen. Und dann befiehlt Jesus, dass man dem Mädchen zu essen geben solle. Es soll sich selbst spüren, indem es wieder isst und das Essen genießt.
BIBELGESCHICHTE
Ein Mädchen, das von einem unreinen Geist besessen war, ist Thema einer anderen Geschichte, in der es um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter geht. (Mk 7,24-30) Der unreine Geist ist ein Bild für negative Gefühle, von denen das Kind gleichsam besetzt ist.
Er trübt das Denken, zeigt sich oft in Zwangsgedanken oder in negativen Denkmustern. Der Theologe Fridolin Stier (1902–1981) übersetzt die »unreinen Geister« oder die »Dämonen« mit »Abergeistern«. Das kennen auch manche heutigen Mütter von ihren Töchtern. Bei allem, was sie ihren Kindern sagen, antworten die mit: »Aber. – Aber bei mir ist es ganz anders. Aber bei mir geht das nicht. Aber das ist unfair. Aber das kann ich nicht machen.«
Die Mutter fühlt sich ohnmächtig ihrer Tochter gegenüber. Sie geht auf Jesus zu und wirft sich ihm zu Füßen und bittet ihn, er möge aus ihrer Tochter den Dämon austreiben. Doch Jesus geht zunächst nicht auf die Bitte der Mutter ein. Er konfrontiert sie vielmehr mit ihrem Verhalten der Tochter gegenüber: »Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.« (Mk 7,27) Die Mutter spürt, dass sie ihre Tochter nicht gesättigt hat, dass sie zu viel Energie für ihre eigenen Bedürfnisse verwendet hat. Nun liegt das Kind krank auf dem Bett, weil es nicht satt geworden ist an Zuwendung. Die Größe der Mutter besteht jetzt darin, dass sie sich von Jesus mit ihrer Wahrheit konfrontieren lässt. Sie antwortet: »Ja, du hast recht, Herr! Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen.« (Mk 72,8)
Die Mutter erkennt, dass ihre Tochter nicht satt geworden ist. Aber sie offenbart Jesus auch ihre Bedürftigkeit: Ich habe ja auch Bedürfnisse. Für mich muss auch etwas übrig bleiben von dem Brot, das für die Kinder bestimmt ist. Ich brauche auch Zeit für mich. Ich kann nicht nur für das Kind leben.
Jesus bestätigt ihr, dass sie die Situation richtig erkennt. Er antwortet ihr: »Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen.« (Mk 7,29) Im Griechischen heißt es noch genauer: »Wegen dieses deines Wortes, wegen dieser deiner Einsicht geh: Der Dämon hat deine Tochter verlassen.« Weil die Mutter die Beziehung zu ihrer Tochter richtig erkennt, verlässt der unreine Geist das Kind.
BEDÜRFNISSE ERKENNEN, FREIRÄUME SCHENKEN
Der Dämon ist also keine äußere Macht, die die Tochter im Griff hat. Er ist vielmehr innere Verwirrung und Verwicklung zwischen Mutter und Tochter. Beide sehen sich selbst nicht richtig. Der trübe Geist hindert sie daran, sich gegenseitig so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind.
Man könnte die Geschichte auch noch anders deuten: Die Tochter ist nicht krank. Sie ist scheinbar vom Dämon besetzt, weil die Mutter sie nicht richtig wahrnimmt. Diese Erfahrungen machen manche Mütter pubertierender Töchter.
Eine Mutter erzählte mir, ihre 15-jährige Tochter bringe sie oft zur Weißglut. Sie mache nur das, was ihr gefiele. In ihrer Wut fuhr die Mutter ihr Kind an: »Du erfüllst nur deine eigenen Wünsche. Ich würde auch mal gerne freinehmen. Aber ich bin immer nur für euch da.« Die Tochter antwortete darauf ruhig: »Mach’s halt. Geh doch ins Museum. Ich koche für dich.« Die Mutter erfüllte sich den Wunsch und als sie zurückkam, war die ganze Familie zufrieden. Die Tochter hatte gut gekocht, sogar alles nachher aufgeräumt. Da erkannte die Mutter: Das Kind ist nicht krank, es lebt nur meine Schattenseiten. Meine Tochter deckt mir meine verdrängten BEDÜRFNISSE auf.
Offensichtlich rebellieren pubertierende Töchter und Söhne oft gegen ihre Eltern, weil sie spüren, dass Mutter und Vater Wünsche und Bedürfnisse verdrängt haben. Die Kinder merken genau, was hinter einer scheinbar makellosen Fassade der Eltern an verdrängten Bedürfnissen verborgen ist. Mit ihrem Verhalten decken sie auf, was die Eltern in den Schatten gedrängt haben.
BIBELGESCHICHTE
Eine Vater-Sohn-Geschichte stammt ebenfalls von Markus. Der Vater erzählt Jesus: »Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht. Er ist von einem stummen Geist besessen; immer wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden, und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr.« (Mk 9,17f)
Wenn wir diese Beschreibung nicht einfach auf einen epileptischen Anfall hin deuten, sondern auf die Eltern-Kind-Beziehung, dann können wir uns vorstellen: Im Umfeld des Vaters fand der Sohn keine Möglichkeit, seine aggressiven Gefühle zu äußern. Vielleicht traute er sich nicht, weil er immer brav sein wollte. Vielleicht strahlte auch der Vater aus, dass Aggressionen etwas Schlechtes seien. Jesus lässt den Jungen zu sich bringen. Doch sobald sich jener näherte, zerrte der unreine Geist »den Jungen hin und her, sodass er hinfiel und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte.« (Mk 9,20) Jesus reagiert aber nicht mit Angst vor diesem Anfall, sondern er macht ganz nüchtern eine Anamnese, indem er fragt: »Wie lange hat er das schon?« Er möchte sich den Jungen genau anschauen und erkennen, woher diese Anfälle kommen. Der Vater erzählt, dass sein Kind sie schon von klein auf hätte. Der unreine Geist habe seinen Sohn sogar oft ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Die negativen Gefühle waren offensichtlich so heftig, dass sie den Jungen völlig im Griff hatten und ihm schadeten. Der Vater fühlt sich hilflos, so sagt er zu Jesus: »Wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns!« (Mk 9,22) Jesus antwortet: »Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt.« (Mk 9,23) Er spiegelt dem Vater, dass dieser nicht an seinen Sohn geglaubt hat. Er hat hinter dem Verhalten des Kindes nicht dessen Sehnsucht erkannt, dass er als Sohn alle seine Gefühle leben wollte, auch die aggressiven, und dass er sich von seinen Eltern innerlich freimachen wollte durch seine Anfälle. Der Vater erkennt durch die Antwort Jesu, dass es darum geht, an sein Kind zu glauben. Und so antwortet er: »Ich glaube. Hilf meinem Unglauben. – Ich möchte ja glauben. Aber hilf du mir, dass ich an meinen Sohn glauben kann.«
Jesus befiehlt nun dem stummen Geist, der den Sohn zu Boden geworfen hat: »Ich befehle dir, du stummer und tauber Geist: Verlass ihn und kehr nicht mehr in ihn zurück.« Da zerrte der Geist den Jungen hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei.« (Mk 9,25f) Der stumme Geist, der den Sohn zum nonverbalen Ausdruck seiner Wut in den Anfällen gezwungen hat, fährt aus mit einem lauten Schrei.
BEZIEHUNGEN KÖNNEN HEILEN
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