Die kleine Dame (1). Stefanie Taschinski
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Normalerweise spielt Lilly nie im Torweg. Nicht nur weil es dort dunkel ist, von den Mülltonnen müffelt und ganz nebenbei verboten ist. Nein, es ist sowieso viel schöner, auf dem sonnigen Spielplatz um die Ecke über die schwankenden Balken zu flitzen und an der Turnstange Todesrolle zu machen.
An einem ganz normalen Mittwoch denkt Lilly nicht im Traum an den Torweg, der in den Hinterhof führt. Doch dieser Mittwoch war kein normaler Tag. Es war Lillys Glückstag! Lilly hatte auf dem Schulfest eine Kamera gewonnen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so Schönes gewonnen und sie war so aufgeregt, dass sie den ganzen Weg nach Hause hüpfte. Selbstverständlich wollte Lilly nichts lieber, als sofort ihre ersten Fotos machen.
Sie lief in die Küche, wo ihre Mutter am Tisch stand und einen Teig knetete. Nicht mit der Rührmaschine, sondern mit den Händen. Der Teig quoll zwischen ihren Fingern durch. Er klebte an ihren Händen, in ihren Haaren und an ihrer Nase. Denn wenn Mama Teig knetete, tat sie es mit ganzem Herzen.
»Mama, ich hab einen Fotoapparat gewonnen!«
»Schön, schön …« Mama sah kurz von dem Teig auf »… willst du probieren?« Sie hielt Lilly einen Klecks Teig unter die Nase. Er war mit dicken Schokostreuseln und herrlich cremig. Lilly schleckte den Klecks ab.
»Lecker«, schmatzte sie. »Kannst du mir jetzt mit meinem Fotoapparat helfen?«
»Sofort mein Schatz, sofort …«
»Ich weiß nicht, wie man den Chip einlegt«, versuchte Lilly es noch mal und holte das kleine Plastikding aus ihrer Hosentasche.
Mama streute etwas Mehl auf die Tischplatte.
»Ich helf dir gleich, ja. Ich muss nur noch schnell diesen Kuchen in den Ofen bekommen.«
Die nächste Portion Mehl schneite auf den Tisch. Lilly wusste, dass es mindestens noch eine halbe Stunde dauern würde, bis Mama mit dem Backen fertig war.
An einem normalen Nachmittag hätte ihre Mutter sie ganz sicher auf ihren Schoß gezogen und gemeinsam mit ihr die Kamera bewundert. Doch ausgerechnet heute, an Lillys Glückstag, hatte ihre Mutter nicht die klitzekleinste Minute Zeit für sie.
Lilly lief ins Wohnzimmer, um ihren Vater zu bitten, den Chip einzulegen. Herr Bär kniete auf dem Boden, vor ihm stand Mamas rotes Fahrrad – die Räder zur Decke. In der einen Hand den Schraubenzieher, in der anderen einen Lappen, war er gerade dabei, die Kette von dem Zahnrad zu lösen.
»Papa, schau mal! Ich hab einen Fotoapparat gewonnen!«
Voller Stolz zeigte Lilly ihm den kleinen schwarzen Apparat. Papa legte den Schraubenzieher zur Seite und sah sich die Kamera an.
»Das ist ja ein richtiger Fotoapparat!«, sagte er und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Nase.
»Gratuliere!«
»Hilfst du mir, den Chip einzulegen?«, fragte Lilly.
An einem normalen Nachmittag hätte Papa sie mindestens durch die Luft gewirbelt und gerufen: »Hey, hey, hey, mein wundervolles Töchterchen hat einen Fotoapparat gewonnen!«
Doch ausgerechnet heute, an ihrem Glückstag, nahm Papa wieder den Schraubenzieher und sagte: »Gib mir zehn Minuten.«
Zehn Minuten? Das war ja eine Ewigkeit. So lange konnte Lilly unmöglich warten und sie rannte zum Kinderzimmer.
Dann zeige ich meine Kamera eben Karlchen, dachte sie und öffnete die Kinderzimmertür. Doch was war das? Mehr als einen Spaltbreit ließ sich die Tür nicht öffnen.
»Karlchen«, rief Lilly. »Ich hab einen Fotoapparat gewonnen.«
Ein vermummtes Gesicht erschien in der Tür. Karlchen trug Papas alte Schutzbrille und Mamas Backhandschuhe. Sie flüsterte: »Wir sind eingeschneit.«
»Quatsch mit Soße! Mach die Tür auf! Ich will dir meinen …«
Aus dem Kinderzimmer erklang ein lang gezogenes Heulen. »Oh, mein Hund!«, rief Karlchen. »Ich muss meinen Hund retten!«
»Das ist doch Jakob«, rief Lilly.
Jakob war Karlchens Kindergartenfreund.
»Nein, das ist mein Hund!«, widersprach Karlchen und machte ihrer großen Schwester klack die Tür vor der Nase zu.
An einem ganz normalen Nachmittag hätte Karlchen ihr geliebtes Schokoladeneis hergegeben, nur um einen Blick auf Lillys Kamera zu werfen. Aber ausgerechnet heute, an Lillys Glückstag, spielte sie Eskimo.
»Wie können Papas, Mamas und kleine Schwestern nur alle auf einmal so blöd sein?«, schimpfte Lilly vor sich hin. »Da gewinne ich eine echte Kamera und niemand will sie sehen.«
Lilly wusste ja nicht, dass im Hinterhof die neugierigste kleine Dame der Welt wohnte, die nur darauf wartete, dass ein kleines Mädchen mit ihrer Kamera vorbeikäme. Denn neben Chamäleonisieren gehörte Tofografieren zu den Lieblingsbeschäftigungen der kleinen Dame.
Heute an ihrem Glückstag beschloss Lilly, das Brezelhaus zu verlassen. Sie wollte weg, ganz weit weg und sich so gut zu verstecken, dass Papa, Mama und Karlchen sie nicht wiederfänden. Jawohl, sie würden sehr traurig sein, wenn sie weg wäre, und furchtbar viel weinen. Aber das hatten sie nicht anders verdient!
Hinter der Hecke
Es war der erste richtige Sommertag. Dicke Hummeln summten durch die Luft und die Kinder, die vor dem Brezelhaus auf dem Fußweg vorbeispazierten, hatten mindestens fünf Kugeln Eis in ihrer Tüte. Ja, fünf.
Es war einer dieser Nachmittage, an denen man unbedingt verbotene Dinge tun muss. Lilly las das Schild »Kinder verboten!«, schnaubte und ging schulterzuckend weiter zu dem Tor, das in den Hinterhof führte. Sicher hatte Herr Leberwurst auch verboten, im Hof zu spielen, aber das war Lilly an diesem Tag furzegal.
Sie drückte die Klinke herunter und das Tor öffnete sich mit einem leisen Knarren. Vor ihr lag ein raspelkurzes Stück Rasen mit einer verrosteten Teppichstange.
Genau, so sah es hier aus. Grau und langweilig. Deshalb hatte Lilly auch nie einen Schritt in diesen Hof gesetzt. Aber heute ging sie einfach über den Rasen, unter der Teppichstange hindurch und zwängte sich in die Ligusterhecke, die den Hof in zwei Hälften teilte. Sie wollte ja ganz weit weg von Mama, Papa und Karlchen sein. Hinter dieser Hecke würden sie Lilly niemals finden!
Die Zweige der Hecke wuchsen dicht an dicht. Sie piksten Lilly in die nackten Arme. Sie hakten sich an ihrer Hose fest. Es roch nach Moos und alter Vogelschiete. Aber Lilly schob sich weiter durch die Äste, immer weiter, bis ihre Nasenspitze auf der anderen Seite hervorsah und die Hecke sie freigab.
Lilly rieb sich die Augen. Was war denn das? Hinter der Hecke war der Hof ja viel, viel größer, als sie gedacht hatte. Vor ihr lag eine Blumenwiese. Mehrere verschlungene Pfade führten zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Nicht weit von der Hecke entfernt stand eine riesige, alte Weide. Ihre Zweige hingen bis auf den Boden und wiegten sich in der leichten Brise, als wollten sie Lilly begrüßen.
Lilly setzte sich auf eine kleine Mauer neben der Weide und betrachtete ihre Kamera. Sie drehte den Apparat hin und her. Irgendwo musste doch das Fach für den Chip sein. Sie wusste, dass es so ein Fach gab. Papas Fotoapparat hatte auch so eins. Lilly untersuchte die Kamera von allen Seiten. Ihre Finger fühlten eine kleine Vertiefung, doch als sie hineindrückte, fielen bloß die Batterien heraus und rollten ein Stück über den Boden.
Lilly bückte sich, um die Batterien aufzuheben. Da sah sie plötzlich ein paar sehr kleine Schnürstiefel. Sie blickte auf und fiel auf den Po. Direkt vor ihr stand eine kleine Person