Bezwingt des Herzens Bitterkeit. Hilde Bürger
Meine Großmutter mit mir 1918
Zum Passah-Fest, wo ein Jude immer einen Armen an seinem Tisch speisen lassen sollte, wurde ich zu dieser Familie eingeladen. Ehe man das Essen auftischte, wurde lange gebetet. Das war furchtbar langweilig für mich. Ich dachte dabei immer hoffentlich nimmt die Beterei bald ein Ende, und es gibt das Essen. Es roch so gut. Später musste ich als Jüngste am Tisch auch ein Gebet sprechen. Ich hatte das auswendig gelernt und konnte es nicht übersetzen; ich wusste gar nicht, was ich betete.
Auf Initiative der Großmutter kümmerte sich auch die Jüdische Gemeinde um mich; ab und zu kam eine Fürsorgerin ins Haus. Zu Chanukka wurde ich immer zu einer Feier eingeladen und erhielt dort ein großes Paket: Man hatte mich völlig neu eingekleidet. Mir waren die vielen Almosen sehr peinlich. Warum mussten wir denn so arm sein, dass ich immer von anderen beschenkt werden musste? Warum hatte ich denn keinen Vater, und warum hatte der liebe Gott ihn so jung sterben lassen? Meine Mutter hatte mir nämlich erzählt, dass er, als ich noch ein Baby war, an Lungenentzündung gestorben war. Glühend beneidete ich meine Klassenkameradinnen, die einen Vater hatten. Trotz aller Freundschaft mit Gretchen war mein Neid grenzenlos wegen dieses lieben Vaters, den sie hatte. Gretchens Mutter war dagegen etwas farblos und nörgelte viel. Da war mir meine Mutter lieber.
Unser Hinterhaus war echtes Zille-Milieu, und rückblickend denke ich, dass Heinrich, wenn er einmal in unseren Hinterhof gekommen wäre, uns alle gemalt hätte. Da spielten wir Kinder zwischen den Müllkästen, malten mit Kreide unsere Wohnungen für das Mutter- und Kind-Spiel. Wer einen Springreifen, Kreisel, Murmeln etc. hatte, war reich. Oft kam ich tränenüberströmt nach oben in die Wohnung, wenn man mir meine schönen bunten Murmeln abgewonnen hatte.
Einmal im Jahr war Erntefest auf dem Hinterhof. Kreuz und quer wurden Schnüre mit bunten Fähnchen gezogen, ein paar Stühle mit Tischen wurden aufgestellt, es kam ein Leierkastenmann, und es wurde viel getanzt. Die Kinder wetteiferten im Sackhüpfen und Eiertragen unter der Aufsicht von Onkel Pelle. Bei Dunkelheit gab es Feuerwerk. All diese Auslagen bestritten die begüterten Familien aus dem Vorderhaus, vor allen Dingen die Wirtin, die ein Milchgeschäft besaß.
Als ich in die Höhere Schule kam, hatte ich nicht mehr soviel Zeit, mit den anderen Kindern auf dem Hof zu spielen, ich hatte auch die Leidenschaft des Lesens entdeckt. So saß ich oft in der Küche auf dem Fensterbrett, versteckt hinter dem Gaze-Spindchen mit dem Blumenbrett, wo die Geranien blühten, und habe Jugendbücher gelesen, die ich teils geschenkt, teils geborgt bekommen hatte. So trat mit meinen Kindheitsgespielinnen eine leichte Entfremdung ein. Ausflüge nach dem Exerzierplatz habe ich aber immer mitgemacht. Mit Kecke, Stullen und einer Flasche Kräutertee ging es los. Das waren die kleinen Freuden der Kindheit.
Oft gab es bei mir zu Hause auch große Angst und Tränen, und manchmal kam es zu heftigem Streit zwischen Großmutter und Mutter. Mutter hatte nämlich ab meinem achten Lebensjahr einen Freund, der uns finanziell unterstützte. Er brachte Lebensmittel mit, bezahlte die Gasrechnung und kaufte für mich Spielsachen und Bücher. Er nahm mich mit in die Oper, Operette und ins Theater.
Nun sollte man meinen, dass ich ihn gern gehabt hätte. Nein, ich konnte ihn aber nicht leiden. Er hatte etwas an sich, was ich als Kind noch nicht deuten konnte. Außerdem hörte ich aus dem Schimpfen der Großmutter heraus, dass der Streit immer um diesen Onkel ging. Einmal beschimpften sich Mutter und Großmutter so heftig, dass ich angstvoll zu einer angeheirateten Cousine meiner Mutter lief, die mich erst beruhigen und dann wieder nach Hause zurückbringen musste. Als ich älter wurde, empfand ich diesen Mann als schleimig, unaufrichtig und äußerlich unsauber. In der Nazi-Zeit bewahrheitete sich dann mein Empfinden. Gleich 1933 hat er uns verlassen. Meine Mutter sagte mir dann bitter, dass sie den Mann nie geliebt hätte, sie habe das nur für mich getan, um mir eine bessere Kindheit zu bieten.
Zurück zur Schule. Als ich ein Jahr in der Mittelschule war, wurde meiner Mutter in einem Brief eröffnet, dass man mich zu einer Aufnahmeprüfung des Ulrich-Lyzeums am Senefelderplatz vorgeschlagen hätte. Dort wurde ich von einer sehr netten Lehrerin, Fräulein Laubhard, geprüft und mit Stipendium im Lyzeum angenommen. Ich kam dort in die Quinta. Wir waren nur eine kleine Klasse von 16 Schülerinnen, die aus allen Schichten kamen. Es gab dort auch eine Jüdin, Sala Neumann, die aus einem orthodoxen Elternhaus stammte. Wir freundeten uns an, doch die Eltern billigten unseren Kontakt nicht, weil ich in ihrem Sinne nicht fromm genug war. So trafen wir uns nach der Schule auf der Straße, oder ich nahm sie mit zu uns nach Hause.
Wir hatten eine Klassenlehrerin, der ich noch heute sehr dankbar bin, weil sie den Sinn für die Natur bei uns geweckt hat. Sie machte große Ausflüge mit uns, manchmal auch Dreitage-Ausflüge, was immer einen Höhepunkt bedeutete. Mit Stöckelschuh, engem Rock oder Handtasche wurde niemand mitgenommen, Haferlschuhe, Dirndl und Rucksack gehörten zur Ausrüstung. Diese wanderfreudige Lehrerin behielten wir bis zur Obertertia.
Im Lyzeum meldete ich mich wieder zum evangelischen Religionsunterricht an. Religion gab Fräulein Laubhard, die wie ich auch Halbjüdin war. Nachdem ich ein Jahr lang bei ihr am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen hatte, schwenkte sie zum Judentum über und gab in derselben Schule plötzlich jüdischen Unterricht. Fräulein Krafft, die wir schon vom Geschichtsunterricht kannten, gab den evangelischen. Da ich Fräulein Krafft sehr liebte, blieb ich beim evangelischen Religionsunterricht. Zu meinem Leidwesen sanken meine Noten von den Einsern auf Zweier und Dreier, im Lyzeum wurden doch andere Maßstäbe gesetzt. Trotzdem verlief die Schulzeit bis Untersekunda sehr unbeschwert.
Man schrieb das Jahr 1933; Hitler kam an die Macht. Ein Teil meiner zehn Mitschülerinnen veränderte sich. Zwei trugen schon das Parteiabzeichen und drei das Hakenkreuz. Die Lehrer wurden unsicher. Es wurde nur noch mit „Heil Hitler“ gegrüßt, und ich war tief unglücklich, dass meine geliebten Lehrerinnen, Frl. Frömsdorf und Frl. Krafft, sowie meine Klassenlehrerin, Frl. Ippel, auch so grüßten. Heute weiß ich, dass sie es mussten, denn sonst wären sie diffamiert und arbeitslos geworden. Frl. Frömsdorf und Frl. Ippel gaben mir später, als ich es brauchte, sogar eine Bescheinigung, dass ich am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen hatte. Das war gefahrvoll für sie. Frl. Krafft wurde mir später Freundin und Vize-Mutter.
Das Einjährige, die Obersekunda-Reife, erhielt man durch ein Examen. Der Oberschulrat, der als Sozialdemokrat bekannt war, wollte nun seine Stellung bei den Nazis festigen und gab uns beiden jüdischen Schülerinnen in allen Fächern eine Note schlechter, als wir eigentlich verdient hatten. Nur im Deutschen konnte er sich mit der Drei bei mir nicht durchsetzen, weil das ganze Lehrerkollegium auf einer Zwei bestand. Weihnachten zuvor hatte ich sogar ein Gedicht für Spenden zur Winterhilfe gemacht, das in größerer Auflage gedruckt wurde. Jede Schülerin der Schule erhielt ein Exemplar.
Helft und gebt!
Begrüßt mit Freuden weit und breit
Naht wieder die schöne Weihnachtszeit,
Ersehnt sie doch im ganzen Jahr
Mit Hoffnungsglück die Kinderschar.
Denn wie jauchzen sie vor Seligkeit,
Ist unterm Baum nur ’ne Kleinigkeit.
Doch Armut bietet keinen warmen Raum,
Weder Schaukelpferd noch Weihnachtsbaum,
Keine Jacke, keinen Mantel, kein Kleid,
Nicht mal die dringendste Notwendigkeit.
Das Kinderherz wäre enttäuscht vor Schmerzen,
Gäb’ es nicht so viele gute Herzen.
Darum fleht Euch an der Kinderblick:
Traget bei zu unserem Weihnachtsglück!
Helft und gebt! Jede Kleinigkeit
Nehmen wir an mit Dankbarkeit.
Denn wer der andern hat gedacht,
Sich erst das Fest zum Feste macht!
Eine Schülerin der Untersekunda
Das Lehrerinnenkollegium
und der Elternbeirat des Ulrich-Lyzeums,