5 mörderische Herbst Thriller - Krimi Sammelband 5003 September 2019. Cedric Balmore
West New York nehmen deren Hilfe bisweilen in Anspruch. Darüber hinaus verfügte das FBI allerdings noch zusätzlich über entsprechende erkennungsdienstliche Kapazitäten.
Die Tür ging auf.
Agent Max Carter, ein Innendienstler aus unserer Fahndungsabteilung, trat ein.
Er hatte sich etwas verspätet, schien dafür aber einen entschuldbaren Grund zu haben. Jedenfalls nickte Mister McKee ihm lediglich zu, woraufhin Max sich zu uns an den Tisch setzte.
„Über die näheren Umstände am Tatort kann ich Ihnen natürlich noch nichts sagen“, erklärte unser Chef. „Es ist leider unvermeidlich, dass die Medien diesen Fall groß aufziehen werden, was unserer Arbeit, wie Sie sich alle denken können, nicht gerade erleichtern wird. Einen Aufruf für Zeugen, die eventuell sachdienliche Hinweise zu machen haben, hat Max bereits dankenswerter Weise an alle großen Zeitungen und Radiosender, sowie die lokalen Fernsehkanäle herausgegeben. Mister Longoria ist schließlich nicht der Einzige gewesen, der um diese Zeit in diesem Teil des Central Park seine Runden gedreht hat. Nach den bisherigen Angaben der Homicide Squad I des 12. Reviers unter Captain Danny Ricardo, ist Longoria wohl aus nächster Nähe erschossen worden. Es gibt einen Zeugen, der glaubt, einen BMW mit quietschenden Reifen davon fahren gesehen zu haben. Es handelt sich um einen Rentner, der um diese Zeit mit seinem Hund im Central Park spazieren geht. Der Hund hat den Toten übrigens gefunden. Alles Weitere wird man erst noch ermitteln müssen.“ Nach einer kurzen Pause des Schweigens setzte Mister McKee noch hinzu: „Der Respekt vor dem Recht scheint auf einem Tiefpunkt angekommen zu sein, wenn jetzt schon Staatsanwälte fürchten müssen, von Gangstern einfach niedergestreckt zu werden. Es ist allgemein bekannt, dass ich mit Mister Longoria nicht immer und in allen Fragen übereingestimmt habe. Aber die Leidenschaft für das Recht als wichtigste Waffe im Kampf gegen das Verbrechen haben wir geteilt. In letzter Zeit haben wir uns auch persönlich etwas näher kennen gelernt. Mister Longoria verlor seine Eltern bereits im Alter von vierzehn Jahren durch einen Amokschützen, der unter dem Einfluss der damals gerade aufkommenden synthetischen Drogen stand. Das hat seinem Kampf gegen das Verbrechen den nötigen Antrieb gegeben. Seit ich das erfuhr, konnte ich ihn noch um einiges besser verstehen…“
„Die Liste derjenigen, die mit James Longoria noch eine Rechnung offen hatten, dürfte ziemlich lang sein“, brach Clive Caravaggio als erster das anschließende, etwas betretene Schweigen. Es kam nicht oft vor, dass unser Chef seine Emotionen nach außen dringen ließ. Wir hatten gerade einen dieser seltenen Momente erlebt und es erschien den meisten von uns wohl irgendwie unangemessen, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Aber genau das mussten wir tun, wenn wir den oder die Mörder von James E. Longoria fassen wollten. Es war immer dasselbe. Die Zeit arbeitete zu Gunsten des Täters und für uns begann jedes Mal ein Wettlauf. Spuren verschwanden oder zersetzten sich, Zeugen erinnerten sich nicht mehr richtig. Die Berichte in den Medien würden außerdem dazu führen, dass wir eine ganze Flut von vermeintlichen Hinweisen, Verdächtigungen und vielleicht sogar falschen Geständnissen von psychisch gestörten Wichtigtuern bekamen. Eine unserer kniffligsten Aufgaben war es dann immer, aus dem ganzen Wust das Wenige herauszufiltern, was wirklich relevant war.
Longoria galt insbesondere in Fällen des organisierten Verbrechens als Hardliner, der sich nicht gerne auf einen Deal mit Verdächtigen einließ, die er für schuldig hielt.
„Max war so freundlich, schon mal ein paar Fälle herauszusuchen, in denen jemand blutige Rache gegenüber Staatsanwalt Longoria geschworen hat oder ihn bedrohte“, erklärte Mister McKee. Er wandte sich an Max Carter und fragte: „Was haben Sie gefunden?“
„Da ist zum Beispiel Shane Kimble, ein Gang-Leader aus der Bronx, der jetzt eine halbe Ewigkeit in Rikers Island absitzen muss“, erläuterte Max. „Ein Komplize hat gegen Kimble ausgesagt, nachdem Longoria ihm ein Angebot gemacht hat. Das hat Kimble ziemlich sauer gemacht.“
„Ausgerechnet der kompromisslose Longoria!“, konnte sich Orry eine Bemerkung nicht verkneifen. Unser indianischer Kollege trug einen modisch geschnittenen italienischen Anzug zu einer stilvollen Seidenkrawatte. Orry galt allgemein als bestangezogendster G-man an der Federal Plaza. Doch das war beileibe nicht seine einzige Qualität. Er war drüber hinaus auch ein hervorragender Ermittler, wie er bei zahlreichen Fällen unter Beweis gestellt hatte. Ein Kollege, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte.
„Ich erinnere mich an den Fall“, sagte Mister McKee und nippte dabei an seinem Kaffeebecher. „Das ist gut fünf Jahre her. Wenn Longoria diesem Komplizen – wie hieß er noch gleich?“
„Dustin Jennings!“, gab Max nach einem kurzen Blick in seine Unterlagen Auskunft.
„…kein Angebot gemacht hätte, wäre Kimble wieder auf freiem Fuß.“
„Jetzt sitzt er wegen Mordes und hat wohl keine Aussicht jemals wieder entlassen zu werden“, stellte Max fest.
„Und was ist mit Jennings?“, fragte ich.
„Ist seit einem halben Jahr auf Bewährung draußen“, erklärte Max. „Jedenfalls hätte Kimble im Gerichtssaal bei der Urteilsverkündung beinahe den Staatsanwalt angefallen und musste trotz Handschellen von mehreren Officers festgehalten werden. Da wir außerdem davon ausgehen müssen, dass Kimble zumindest einen Teil seiner Drogengeschäfte aus dem Gefängnis heraus steuert und von seinen Gangbrüdern wie ein Held verehrt wird, gehört Kimble auf jeden Fall auf die Liste der Verdächtigen!“
„Aber er dürfte nicht der einzige sein“, gab Orry zu Bedenken.
Max nickte.
„Ganz zu Anfang seiner Karriere sorgten Longorias Ermittlungen für die Verurteilung eines Mannes namens Jason Carlito für Aufsehen. Carlito war Zuhälter in Spanish Harlem und wurde beschuldigt, eine der jungen Frauen, die für ihn anschafften, grausam ermordet zu haben. Die Beweise schienen eindeutig zu sein. Jahre später veranlasste sein Verteidiger eine erneute Untersuchung des damals sichergestellten DNA-Materials. Es gab inzwischen bessere Verfahren und so stellte sich heraus, dass Carlito vielleicht ein Zuhälter aber kein Mörder war.“
„Wie hat er das hingenommen?“, hakte Mister McKee nach.
„Schlecht“, fuhr Max fort. „Er hat Longoria mit Hassanrufen verfolgt, sich bei dessen Prozessauftritten ins Publikum gemischt, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Longoria ließ ihm gerichtlich verbieten, dass er sich ihm auf mehr als hundert Yards näherte. Es gab in dieser Zeit eine Serie von zusammengeklebten Drohbriefen, die sowohl Longorias Büro als auch seine Privatadresse erreichten, aber Jason Carlito konnte vor Gericht nicht nachgewiesen werden, der Urheber dieser Briefe gewesen zu sein.“ Max deutete auf die vor ihm liegenden Ordner. „Es gibt noch eine Reihe weiterer Fälle, die ebenso mit Longorias Ermordung in Verbindung stehen könnten. Ganz zu schweigen von seinen aktuellen Ermittlungen gegen mehrere Drogengangs in der Bronx und ihre Hintermänner…“
Milo seufzte hörbar.
„Es wird uns wohl kaum etwas anderes übrig bleiben, als diese Liste systematisch abzuarbeiten“, glaubte er und damit lag er zweifellos richtig.
4
Als Milo und ich am Tatort im Central Park ankamen, war dort das meiste schon gelaufen.
Longorias regelrecht durchsiebter Leichnam lag längst in der Pathologie des Coroners und wurde einer Obduktion unterzogen.
Patronenhülsen, die mit einer Automatik vom Kaliber 45 abgeschossen worden waren, hatten sichergestellt werden können. Ob die Tatwaffe schon einmal verwendet worden war, würde sich erst nach den ballistischen Untersuchungen zeigen. Damit wir in diesem Fall nicht auf die im Moment stark überlasteten SRD-Labors in der Bronx angewiesen waren, würde unser eigener Ballistiker Dave Oaktree die dafür notwendigen Untersuchungen durchführen. Weil wir Dave am Tatort mit Sicherheit nicht mehr antreffen würden, hatten wir während der Fahrt von der Federal Plaza zur Transverse Road No.1 telefonischen Kontakt mit ihm. Er machte uns allerdings wenig Hoffnung darauf, dass die Testergebnisse schneller als in vierundzwanzig Stunden zur Verfügung standen.
Eine Untersuchung der Patronenhülsen auf Fingerabdrücke war bereits am Tatort geschehen und negativ ausgefallen.