Mord mit verteilten Rollen. Agatha Christie
lag auf der Hand, dass Bewunderung angezeigt war. Poirot reagierte entsprechend und murmelte mehrmals: »Magnifique!« Eigentlich hatte er nicht viel übrig für die Natur. Ein gut sortierter und ordentlich angelegter Küchengarten würde Poirot sehr viel eher ein bewunderndes Murmeln entlocken. Zwei junge Frauen gingen an der Limousine vorbei und schleppten sich mühsam den Hügel hinauf. Sie hatten schwere Rucksäcke umgeschnallt und trugen Shorts sowie leuchtend bunte Kopftücher.
»Auf unserem Nachbargrundstück steht eine Jugendherberge, Sir«, erklärte der Chauffeur, der sich eindeutig bemüßigt fühlte, Poirot als Fremdenführer für Devon zu dienen. »Hoodown Park. Gehörte früher Mr Fletcher. Dann hat es der Jugendherbergsverband gekauft, und im Sommer ist es dort jetzt meistens proppenvoll. Über hundert Leute können da schlafen. Sie dürfen aber höchstens zwei Nächte bleiben, dann müssen sie weiterziehen. Jungen und Mädchen, hauptsächlich aus dem Ausland.«
Poirot nickte abwesend. Er überlegte, und das nicht zum ersten Mal, dass Shorts, aus rückwärtiger Perspektive betrachtet, nur sehr wenigen weiblichen Wesen wirklich gut standen. Gequält schloss er die Augen. Warum, warum nur mussten junge Frauen sich derart herausstaffieren? Diese scharlachroten Schenkel waren alles andere als attraktiv!
»Sie scheinen schwer beladen«, murmelte er.
»Ja, Sir, und es ist ein langer Weg vom Bahnhof oder von der Bushaltestelle. Gut drei Kilometer bis Hoodown Park.« Er zögerte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, könnten wir sie vielleicht mitnehmen?«
»Selbstverständlich, selbstverständlich«, erwiderte Poirot wohlwollend. Er saß hier in einem fast leeren Luxuswagen, während sich diese beiden jungen Frauen, gebeugt unter der Last ihrer schweren Rucksäcke, keuchend und schwitzend voranschleppten und nicht die leiseste Ahnung hatten, wie man sich anziehen musste, um auf das andere Geschlecht attraktiv zu wirken. Der Chauffeur ließ den Motor an, fuhr einige Meter und brachte den Wagen mit einem Schnurren neben den jungen Frauen zum Stehen. Hoffnungsvoll hoben sie die geröteten, erhitzten Gesichter.
Poirot öffnete die Tür, und die beiden stiegen ein.
»Das ist sehr freundlich, danke«, sagte eine von ihnen, ein blondes Mädchen mit einem ausländischen Akzent. »Es ist weiter, als ich dachte, ja.«
Die andere, deren Gesicht sonnenverbrannt und puterrot war und deren kastanienbraune Locken unter dem Kopftuch hervorsahen, nickte nur mehrmals, ließ die Zähne aufblitzen und murmelte: »Grazie.«
Das blonde Mädchen redete lebhaft weiter: »Ich bin nach England gekomme für zwei Wochen Ferien. Ich komme aus Holland. England gefällt mir sehr gut. Ich war in Stratford Avon, Shakespeare Theatre und Warwick Castle. Dann war ich in Clovelly, habe Exeter Cathedral und Torquay gesien – sehr schön –, jetzt bin ich in berühmte schöne Landschaft hier und fahre morgen über der Fluss und dann nach Plymouth und Plymouth Hoe, von wo aus Entdecking von die Neue Welt gemacht wurde.«
»Und Sie, Signorina?« Poirot wandte sich an die andere junge Frau, die jedoch nur lächelte und ihren Lockenkopf schüttelte.
»Sie spricht nicht viel Englisch«, sagte die Holländerin umgänglich. »Wir beide spreche ein bisschen Französisch – so wir haben geredet in der Zug. Sie kommt aus die Nähe von Mailand und hat eine Verwandte in England, verheiratet mit ein Gentleman, der hat große Laden mit viele Lebensmittel. Sie ist gestern mit eine Freundin gekomme nach Exeter, aber Freundin hat gegesse verdorbene Kalbfleisch-und-Schinken-Pastete aus der Laden in Exeter und muss krank dableiben. Ist nicht gut bei warme Wetter, die Kalbfleisch-und-Schinken-Pastete.«
Jetzt kamen sie an eine Straßengabelung, und der Chauffeur hielt an. Die Mädchen stiegen aus, bedankten sich in zwei Sprachen und nahmen den linken Abzweig. Einen Moment lang legte der Fahrer seine olympische Reserviertheit ab und sagte gefühlsbetont zu Poirot: »Es ist ja nicht nur die Kalbfleisch-Schinken-Pastete, mit Cornish Pastys sollte man genauso vorsichtig sein. In der Ferienzeit tun die da sonst was rein.«
Er ließ den Motor wieder an und nahm den rechten Abzweig, der schon bald in einen dichten Wald führte. Jetzt gab er sein abschließendes Urteil über die Gäste der benachbarten Jugendherberge zum Besten: »Ganz nette junge Frauen, manche von denen, da oben in der Herberge, aber es ist nicht leicht, ihnen klarzumachen, dass sie nicht einfach fremde Grundstücke betreten dürfen. Absolut schockierend, dass sie’s immer wieder tun. Scheinen nicht zu kapieren, dass ein Anwesen hierzulande Privateigentum ist. Ständig kommen sie durch unsere Wälder und tun so, als würden sie nicht verstehen, was man ihnen sagt.« Finster schüttelte er den Kopf.
Sie fuhren weiter durch Wald, einen steilen Hügel hinunter, dann durch ein großes schmiedeeisernes Tor und eine Auffahrt entlang, bis sie schließlich vor einem großen georgianischen Herrenhaus mit Blick auf den Fluss hielten.
Als der Chauffeur die Wagentür öffnete, trat ein hochgewachsener schwarzhaariger Butler auf die Stufen heraus.
»Mr Hercule Poirot?«, murmelte Letzterer.
»Ja.«
»Mrs Oliver erwartet Sie, Sir. Sie finden sie unten auf dem kleinen Kanonenplatz. Erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.«
Er brachte Poirot zu einem gewundenen Pfad, der am Waldrand entlangführte und gelegentlich den Blick auf den tiefer liegenden Fluss freigab. Nach einem sanften Abstieg mündete der Pfad schließlich in einer freien Fläche, einem runden Platz mit einer niedrigen Brustwehr. Auf einer der Zinnen saß Mrs Oliver.
Als sie sich erhob, um Poirot zu begrüßen, fielen ihr etliche Äpfel vom Schoß und rollten nach allen Seiten. Äpfel schienen zu jeder Begegnung mit Mrs Oliver zwangsläufig dazuzugehören.
»Ich weiß nicht, warum ich ständig alles fallen lasse«, sagte sie ein wenig undeutlich, da sie gerade an einem Stück Apfel kaute. »Wie geht es Ihnen, Monsieur Poirot?«
»Très bien, chère Madame«, erwiderte Poirot höflich. »Und Ihnen?«
Mrs Oliver sah ein wenig anders aus als bei ihrer letzten Begegnung, und der Grund dafür lag, wie sie es bereits am Telefon hatte durchblicken lassen, darin, dass sie erneut mit ihrer coiffure experimentiert hatte. Als Poirot sie zuletzt gesehen hatte, da hatte sie sich für eine windgepeitschte Optik entschieden. Heute türmte sich ihr intensiv gebläutes Haar in unzähligen recht künstlich anmutenden kleinen Locken in einem Pseudo-Marquise-Stil auf ihrem Kopf auf. Diese Eleganz endete in ihrem Nacken; der Rest ihrer Erscheinung hätte durchaus unter die Rubrik »ländlich-rustikal« fallen können: Sie trug ein dottergelbes grobes Tweedkostüm sowie einen gallig senffarbenen Pullover.
»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte Mrs Oliver fröhlich.
»Das hätten Sie unmöglich wissen können«, erwiderte Poirot streng.
»O doch, ich wusste es.«
»Ich frage mich selbst immer noch, weshalb ich hier bin.«
»Nun, ich weiß die Antwort. Neugier.«
Poirot sah sie mit einem kleinen Augenzwinkern an. »Ihre berühmte weibliche Intuition«, sagte er, »hat Sie vielleicht dieses eine Mal nicht allzu sehr in die Irre geführt.«
»Also, machen Sie sich bitte nicht über meine weibliche Intuition lustig. Habe ich nicht immer sofort gewusst, wer der Mörder war?«
Poirot schwieg galant. Sonst hätte er womöglich geantwortet: »Vielleicht beim fünften Versuch, und auch dann nicht immer!«
Stattdessen sagte er, sich umblickend: »Wirklich ein herrliches Anwesen, das Sie hier haben.«
»Das hier? Aber das gehört doch nicht mir, Monsieur Poirot. Haben Sie das tatsächlich geglaubt? O nein, es gehört irgendwelchen Leuten namens Stubbs.«
»Wer ist das?«
»Ach, niemand weiter«, antwortete Mrs Oliver vage. »Bloß ein paar Reiche. Nein, ich bin beruflich hier, ich habe hier zu tun.«
»Aha, Sie sind auf der Suche nach etwas Lokalkolorit für eines Ihrer chefs-d’œuvre?«
»Nicht doch!