Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
Bo
Romantrilogie
1 Traum von Frau
2 Das Leben eines Mannes
3 Das Fest der Männer und der Frauen
Hans-Ulrich Möhring
Das Fest der Männer und der Frauen
Roman
Bo
Drittes Buch
Umschlaggestaltung: Notburga Reisener
© 2020 Hans-Ulrich Möhring
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-09439-0
Hardcover: 978-3-347-09440-6
e-Book: 978-3-347-09441-3
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»… zu etwas wir.«
… hakani uro …
Es ist so weit.
Am Bahnsteig eben hat er schon gedacht, er wäre angekommen. Endlich konnten die Körper sich spüren und sich ausgiebig ihrer Wirklichkeit versichern: du bist wirklich für mich, ich bin wirklich für dich, wir, heißt das wirklich, sind wirklich für uns, und diese bisher nur verheißene und beschworene, nur geglaubte und im stillen immer wieder bezweifelte gemeinsame Wirklichkeit wird jetzt wahr, jetzt hat sie begonnen, hier, am Sonntag den 20. Mai 1990 auf dem Kieler Hauptbahnhof, fahrplanmäßig um 18 Uhr 55. Der Saab, so geräumig er ist, fasst die Fülle der Wirklichkeit kaum, die mit ihrem Einsteigen in ihn einbricht, die kusswarmen Lippen sind vor dem Übermaß schon verstummt, gänzlich begnügt, debil zu grinsen, nur seine Hand liegt auf ihrem Schenkel wie ein großes, glühendes Siegel des Glücks. Jetzt. Hier. Straßenzüge gleiten vorbei, Wohnblocks, Villen, Vorstadtgrün … Dann ist es, als änderte sein Herz den Takt. Etwas wie ein Ticken. Er fühlt hin. Ein innerer Countdown, bekannt irgendwie. Nein, er ist noch gar nicht angekommen. Es sind gar nicht nur zwei Körper, die sich zusammentun wollen. Zwei Leben sind es, zwei Leben. So vieles hängt an diesem andern Leben dran, mit dem er seines verbinden will, andere Menschen, die er nicht kennt, mehr, als er ahnen kann, jetzt, hier. Seit er hier in der fremden Stadt aus dem Zug gestiegen ist, läuft dieser Countdown unterschwellig. Eigentlich läuft er, seit er heute morgen eingestiegen ist. Seit ihrem Wiedersehen in Heidelberg vor über einem Monat. Seit diese Frau in sein Leben getreten ist vor sechzehn Jahren. Sein ganzes Leben schon. Alles läuft zu auf den Moment, in dem sich entscheidet, ob er imstande ist, in die weitere Wirklichkeit einzutreten, das neue Leben zu zweien. Sein altes Leben, speziell das letzte Jahrzehnt, war nur die Vorbereitung darauf. Wird sie genügen? Ist er bereit? Sie biegen in den Eiderweg ein. Einfamilienhäuser, in denen keine Armen wohnen. Zehn, neun, acht … In einer Einfahrt halten sie an. Vier, drei… Steigen aus. Null.
Sie geht voraus, winkt ihm zu kommen. Auf dem weitläufigen Rasen hin und her springend zwei Mädchen. Lass! Lass sie spielen!, liegt ihm auf der Zunge. Lieber ein Weilchen noch draußen stehen, als stiller Beobachter an der Gartenhecke, von außen schauen, mit dem Eintreten warten … Aber da sind sie schon gerufen, und sie kommen mit ihren Schlägern angetrabt, um ihn zu begrüßen.
»So, das ist er, das ist Bo«, Sofie klappt die offene Linke aus, »und das ist Ronja«, stolz die Rechte, »und das ist Leni«, von ihm zu ihnen blickend und von ihnen zu ihm. Hallo. Hallo. Sie geben dem fremden Mann die Hand, zwei Blicke streifen ihn kurz aus skeptischen Kinderaugen, dann wechseln sie mit ihrer Mutter ein paar Worte wegen des Abendessens und eilen, von dieser mit einer Handbewegung und einem Lächeln entlassen, auf den Rasen zurück. Er sieht den schlanken Gestalten nach, sieht die Ältere, Ronja, ihren Haarreif richten, bevor Leni aufschlägt, sieht den weißen Federball, sicher getroffen, durch die Luft zischen. Beide haben sie die dunklen welligen Haare ihrer Mutter, Ronja ein Stück kürzer als diese, Leni im langen Pferdeschwanz, ein klein wenig heller. Als er Sofie einst kennen lernte, war sie neunzehn, und auf der Fahrt hat er sich gefragt, ob er an den Töchtern – zwölf und bald zehn, hat er sich gemerkt – vielleicht eine Ahnung des kleinen Mädchens gewinnen kann, das sie einmal war, ob er das Bild der voll erblühten Geliebten, das er nicht müde wird sich in immer neuen Aspekten vors innere Auge zu rufen, um Anmutungen früher Knospenstadien vertiefen kann. Nein, kann er nicht. Mütterliches mischt sich in ihren Gesichtern mit anderen Zügen zu etwas je Eigenem. Ob Ronjas Augen und Backenknochen nun Sofies Erbe sind, oder Lenis Stirn und Mund, jedes Gesicht spricht mit einem einmaligen Ausdruck nur von sich selbst, und was es auch geerbt haben mag, jetzt ist alles sein Eigentum. Sofies Kinder sind zwei fremde Menschen, von denen kein Weg zu seiner Geliebten führt. Wie von seiner Geliebten kein Weg zu ihnen. Von ihrer Mutter kein Weg zu ihm. Es wird ihnen wohl nicht erspart bleiben, solch einen Weg nach und nach selbst anzulegen. Eine Beziehung aufzubauen, wie man sagt. Zum Neuen.
Sofie hakt sich bei ihm ein, und ein Ton wie ein Seufzen entfährt ihm. Hat er Lust, sich den Garten anzuschauen? Ja, unbedingt. Sein Blick hellt sich auf, seine Haltung entspannt sich, während er die Beete betrachtet, die Bäume und Sträucher. Nicht ihr Verdienst, wenn alles gut in Schuss ist, gesteht sie, ein italienisches Ehepaar, das drüben in der kleineren Haushälfte wohnt, hilft ihr im Garten und im Haus. Sie hat vorher nie einen eigenen Garten gehabt, mal abgesehen von den verwilderten Beeten in der Rommersheimer Landkommune, wo sie vor Urzeiten mehr schlecht als recht Salat und Möhren anbaute – »weißt du noch, wie du manchmal mit dem Spaten dazugekommen bist und wir zusammen in der Erde gestochert haben?« – und als sie drei Jahre nach Lenis Geburt mit der Familie nach Mielkendorf zog, da hat sie sich am Anfang geradezu erschlagen gefühlt von dem »Park« hinterm Haus und der Wohnfläche des großbürgerlichen Hauses. Zum Glück sorgten bald schon Matteos kundige Hände draußen für Ordnung wie Rossannas drinnen, so dass sie den Platz, den sie nach und nach zu bewohnen gelernt hat, mittlerweile von Herzen genieße, und für die Mädchen sei das alles ohnehin ganz normal. Bo hebt den Blick von den Lupinen und Pfingstrosen auf. Viel Platz sei er auch gewohnt, sagt er, aber … anders. »Vor Gregors Auszug hatten wir noch mehr Platz«, sagt sie, »da war drüben das Büro und das Studio.«
Drinnen im Haus piept der Auflauf, den sie vor der Fahrt zum Bahnhof noch schnell fertig gemacht und den die Mädchen pünktlich um sieben in den Backofen geschoben haben. Sie geht hinein und lässt Bo noch ein bisschen herumschlendern, ruft Ronja und Leni, damit die sich vor dem Essen noch frischmachen, fängt an, den Tisch zu decken. Sie ist aufgeregt. Anders aufgeregt als letztens vor dem ersten Wiedersehen mit dem Mann, den sie jetzt durchs Fenster dabei beobachtet, wie er das weinberankte alte Gartenhäuschen an der Grundstücksgrenze zu den Eiderwiesen inspiziert. Er tritt durch die Pforte auf die Wiese hinaus, schaut sich um, zum Himmel auf, als stände dort die Antwort geschrieben, wo er hier gelandet ist. Ob ihm langsam schwant, was er sich da angelacht hat? Ob ihm erste Zweifel kommen? Vorigen Monat am Neckar war die Frage, wie ernst sie es miteinander meinten, kein Thema. Dass sie ein gemeinsames Leben wagen wollten, stand ihnen nach den zwei Tagen und zwei Nächten beiden fest, und als er sie zum Zug brachte und beim Abschied die Tatsache nüchtern aussprach, wäre sie fast vergangen vor Glück. Vor Liebe. Die Frage war, wo wie wann? Bis zum Herbst war er noch gebunden, und ob er einfach in den fremden Weiberhaushalt im hohen Norden ziehen konnte, ziehen sollte, tja – »wird sich zeigen«, erklärte er lächelnd, während sie durch das Abteilfenster seine emporgestreckte Hand hielt. Nicht zuletzt ihre Töchter hätten dabei wohl ein Wort mitzureden. Die trugen es mit Fassung, als die Mutter ihnen auf der Heimfahrt von Mainz eröffnete, dass es mit diesem alten Freund – »na, der, von dem ich euch erzählt habe« – doch ernster geworden war als gedacht. »Will der jetzt bei uns einziehen?«, fragte Leni in ihrer unnachahmlichen Leniart, eine Mischung aus Schauder und Hoffnung in der Stimme.