Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
getroffene Frau blieb nicht passiv und musste mitgeschleppt werden, sondern sie ging mit ihm ihren eigenen Weg und verwandelte dabei ihn wie er sie. Er musste grinsen, als ihm das uranfängliche Platonische Kugelwesen einfiel, das Egon in ihren Gesprächen öfter ironisch beschworen hatte, und er stellte sich vor, wie es wiedervereinigt dahinrollte – als Bofie, als So – und wie die gemeinsame Bahn durch ganz neues Gelände führte, nie geahnt von den Halbwesen vor ihrer erneuten Verschmelzung, und die Bahn selbst war verändert und auch das Rollen, runder sozusagen, in sich geschlossener und offener zugleich, anders ins Weite gespannt. Wenn er in früheren Jahren eine am Weg stehende Frau im Rollen vom Rand gewischt und ein Stück mitgenommen und in einer Kurve wieder hinausgetragen hatte, dann war sie ihm wohl eine schöne Schwungkraft gewesen, doch ohne Einfluss auf seine Bahn. In jenem Hotelzimmer jedoch musste er vor der schwellenlosen Offenheit der vor ihm liegenden Frau dringend innehalten und hatte auf einmal das niegekannte Bedürfnis, gewissermaßen eine künstliche Schwelle zu errichten, so etwas wie einen Bremsbuckel, mit dem sie in Friedrichshafen neuerdings den Verkehr beruhigten, einen Strich in den Sand zu ziehen oder ins Bettlaken zu schneiden, damit er ihn feierlich überschreiten konnte zum Übergang auf das Feld des ganzen Lebens. Seines und ihres. Ihrer beider. Doch er kam zu spät. Es gab nichts zu überschreiten. Er stand schon auf diesem Feld. Er hatte die einsame Nacht gebraucht, um das annähernd zu begreifen.
Die zweite Nacht, als er sich bereit fühlte, hatte ihn dann, nicht minder überraschend, mit einer Schwellenlosigkeit anderer Art konfrontiert. Er konnte buchstäblich nicht an sich halten. Die kleinste Bewegung drohte sofort zur Entladung zu führen. Auflösung total. Und die Auflösung, hatte er voller Scham erkannt, betraf nicht nur seinen Körper. Sie betraf auch sein über die Jahre gewachsenes Selbstbild. So lange hatte er sich so fest gefühlt, so klar, ein Mann, der seinen Weg geht. Er hatte von sich das Bild genährt vom harten Lavastein, vom geballten Feuer, doch vor ihr war der Stein zerbröckelt, war das Feuer verglommen. Der Waldeinsiedler war vor der Königstochter zergangen. Gar nicht daran zu denken, dass seine Kraft dem Land Regen und Segen bringen konnte, wie es die alte indische Geschichte erzählte. Die Kraft, die er sich in den Jahren der Einsamkeit erworben zu haben glaubte, verpuffte, kaum dass es ernst wurde, kaum dass sie sich hätte bewähren müssen. Am Morgen hatten sie es ein zweites Mal versucht, wieder unendlich behutsam, und wieder war er sofort gekommen, als sie sich ein kleines bisschen bewegte, und obwohl sie leidenschaftlich gewesen war und hinterher selig gewirkt hatte, hätte er für ihren Orgasmus nicht die Hand ins Feuer gelegt. Bei ihrem Anblick jedoch schlug die Scham unversehens in Glück um, es war kein zweites Gefühl, das ausgleichend und tröstend hinzukam, sondern das eine nur die Kehrseite des andern. Schamglück. Glücksscham. Die Schwäche, deren er sich schämte, beglückte ihn zugleich, denn die Frau, die er liebte, wollte ganz offenbar ihn, in seiner ganzen Armut, sie war nicht von einem Bild geblendet, und der Akt, dem er noch nicht gewachsen war, bedeutete keine Leistung, die sie ihm abverlangte, sondern war das höchste, schönste, konzentrierteste Symbol des Weges, den sie gemeinsam gehen lernen würden, sich einstimmend aufeinander, sich gegenseitig erkennend. Damit empfing der Akt einen Sinn, den er vorher für ihn kaum je besessen hatte. Bo wurde regelrecht überschwemmt von einer Woge des Sinns. Alles was er an dieser Frau tat und von ihr getan bekam, hatte eine innere Notwendigkeit, die er noch bei keiner anderen erlebt zu haben meinte: so musste es sein, so und nicht anders. Indem er sie ansprach und sie ihn einließ, geschah etwas von großer Bedeutung, das sie beide überstieg und woraus etwas Drittes entstand, etwas … Drittes. Er tankte sich in ihr mit Sinn voll, übervoll, und ergoss diesen Sinn wieder in sie.
Endlich saßen sie bei dem Glas Wein zusammen, das sie sich schon die ganze Zeit wünschte. Mmmm, stöhnte sie genüsslich, das brauchte sie jetzt, um runterzukommen nach der Aufregung, ihrer eigenen und der der Mädchen. Die beiden taten zwar recht locker, aber in Wirklichkeit beunruhigte sie die Aussicht sehr, demnächst das Haus mit ihm zu teilen, und die Mama. Er war nach ihrem Vater der erste Mann, mit dem sie unter einem Dach wohnen würden. Sie war schon auch ein bisschen stolz darauf, wie die beiden ihn aufgenommen und sich mit ihm unterhalten hatten. Ach, und sie freute sich sowieso schon seit Wochen wie blöd auf ihn. Ihre Stimme wurde dunkel und warm. Und als Leni zum letzten Mal etwas ganz Wichtiges eingefallen war, das sie der Mama noch unbedingt sagen musste, und beide Töchter endlich schliefen, hielt es auch die Erwachsenen nicht mehr im Wohnzimmer.
Sofie zerfloss schon. »Komm, bitte!«, sagte sie. Sie wollte ihn spüren, sofort. Wenn er nur in ihr drin war, mehr musste erst einmal gar nicht sein, sie wusste ja, wie empfindlich er war, und es rührte sie tief, ihn so zu haben und zu halten, hilflos, schutzlos, vollkommen ehrlich, als wollte er nachträglich seine Behauptung wahrmachen, mit ihr hätte er damals in Frankfurt zum Mann werden können, und ihr in einem symbolischen Akt die Gelegenheit geben, ihm für eine sehr handfeste Mannwerdung, hm, die Stange zu halten. Halb seufzend, halb kichernd nahm sie ihn auf, als er ganz vorsichtig in sie hineinglitt und regungslos liegen blieb, sie nur hielt und ihr ins Ohr atmete, langsam, ruhig, rhythmisch. Auch sie rührte sich nicht, schickte alle Empfindung, alle Aufmerksamkeit nach unten in ihren Schoß, umschloss ihn so innig, dass sie das Blut in seinem Geschlecht pulsen fühlte. Bei ihrem ersten Zusammensein vor Ostern hatte er hinterher von ihrer erlösenden Hand gesprochen. Erlösung aus dem Gefängnis der Halbheit, hatte er gesagt. So, genau so fühlte sie sich jetzt auch, erlöst durch seine nackte Präsenz dort in ihrem Zentrum. Lange lagen sie so, bis ihre Seele voll war von ihm und das erste brennende Begehren gestillt, dann schob sie ihn sachte wieder hinaus und ließ sich von ihm in die Hände nehmen, diese schönen, stark gewordenen Hände, die doch die Zärtlichkeit nicht verlernt hatten, auch wenn sie hier und da fester zugriffen, als es von ihr aus hätte sein müssen.
Ah, nein, sie hatten die Zärtlichkeit nicht verlernt, die Hände. Ein Schauder der Lust durchrieselte sie, noch einer, und mächtig schoss der Wunsch in ihr auf, ihm zu gehören, ganz und gar. Bei ihrem Wiedersehen neulich war sie richtig erschrocken vor der Selbstverständlichkeit und Rückhaltlosigkeit ihrer Hingabe, und dann war es anfangs ein verstörendes Gefühl fast übergroßer Intimität gewesen, zu erleben, wie wenig er imstande war, die Liebe zu ihr körperlich umzusetzen. »Don’t you stop, my baby, whatcha doin’, whatcha doin’?«, hatte sie da sofort Nina Simone im Ohr. Ein wenig enttäuschend. Auch ein wenig erleichternd. Und erst einmal nicht zusammenzubringen mit dem Bild, das sie seit so vielen Jahren von ihrer einen gemeinsamen Nacht damals in Frankfurt mit sich herumtrug, längst verselbstständigt in ihr und beinahe mythisch überhöht, obwohl oder gerade weil sie gar keine konkreten Erinnerungen mehr an diese Nacht hatte, diese eine Nacht.
Die Eine Nacht. Unmittelbar danach hatte sie weiß Gott keinen inneren Raum zum Nachfühlen, Nachdenken gehabt. Sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, sich vor Gregor und ihren Eltern zu rechtfertigen und sich irgendwie aus dem Schlamassel herauszulügen, das sie angerichtet hatte, so dass sie wenig später schon nicht mehr hätte sagen können, wie es wirklich gewesen war mit ihm. Sie wusste nur, oder meinte zu wissen, dass währenddessen die Gefühle über ihr zusammengeschlagen waren wie blutrote Wellen, und im nachhinein hatte sie alles getan, um auch diesen Eindruck zu löschen, was ihr so gut gelang, dass sie sogar die Ursache für das Blutrot verdrängte, in das die Szene für sie getaucht war: ihre Tage. Aber unter der Oberfläche hatte es über die Jahre weiter in ihr gearbeitet, denn in einem der inneren Stürme, in die sie nach Lenis Geburt geriet, war eines Tages aus dem Nebel des Vergessens wie zwischen Wolkenfetzen auf wilder See das Schiff der einen Nacht am Horizont aufgetaucht, der einen Nacht, der Einen Nacht, das Schiff mit dem blutroten Segel, und es war mit der Zeit immer öfter gekommen, immer strahlender, immer näher. Irgendwann war das Segel weiß.
Sie darbte in der Zeit auch körperlich, denn sie konnte sich immer seltener überwinden, Gregor an sich heranzulassen, so sehr sie eine Berührung ersehnte. Die Kluft zwischen ihnen verbreiterte sich. Für Gregor war der Beischlaf eine gemütliche Intimhygiene, die er gern und regelmäßig pflegte, später dann mit anderen Frauen, als es mit ihr zu schwierig wurde, aber auch zu ihren besten Zeiten hatte er sie nie tief ergreifen können. Immerhin war er auf ihre körperliche Befriedigung bedacht gewesen, anders als einst Fred, der entgegen seinem Ruf alles andere war als ein Held im Bett und die Sache als erledigt betrachtete, wenn er sich erleichtert hatte und sich wieder den wichtigen Dingen zuwenden konnte. Verglichen mit ihm war Gregor ein Fortschritt gewesen, und seine Gemütlichkeit hatte den Eindruck der Reife gefördert, den sie von ihrer Beziehung gern haben wollte. Die ruhige Zufriedenheit