Der Herbst des Schwimmers. Helmut Essl
sunt veris clemmis – die Zukunft gehört den wahren Klemmern! Die gehen etwas später in die Kantine, begeben sich mit ihrem Tablett aber nicht zur Essensausgabe, sondern umkreisen mit sicherem Blick diejenigen, die schon am Kämpfen sind, um dann die erlösende Frage zu stellen: „Soll ich dir deine Restroulade abnehmen, bevor es dich zerreißt?“ So lässt sich zum Nulltarif bestens der Magen füllen, und in dem Gefühl, dem Leben wieder einige Moneten abgeluchst zu haben, schmecken am Abend der Zwiebelkuchen vom Vortag sowie das abgelaufene und daher geschenkte Radler umso besser. Manchmal braucht es halt nicht viel, um überglücklich einschlafen zu können.
Exitus auf der Küchenlampe
Sage bloß einer, sie hätte keine Chance gehabt! Natürlich hat sie eine Chance gehabt, sogar mehr als eine, aber sie hat sie alle nicht genutzt! Sich dann aber auf die hell erleuchtete Küchenlampe zu setzen und stur darauf sitzen zu bleiben – welche Torheit! Buchstäblich gebettelt hat die Fliege um den finalen Schlag.
Aus dem Dunkel der Spätsommernacht kam es plötzlich angeflogen, dieses fette, schwarze Ekel. Es fand den schmalen Weg durch das spaltbreit geöffnete Küchenfenster und begann sofort, die Räumlichkeiten zu inspizieren. Knapp unterhalb der Flurdecke flog die Fliege eine kunstvolle Acht, im Arbeitszimmer zwei, im Wohnzimmer drei und im Schlafzimmer deren vier. Dort schien es ihr besonders zu gefallen – Schreck lass nach! Man stelle sich vor, sie landet, während man schläft, auf der Nase, krabbelt in das linke oder rechte Nasenloch, plumpst desorientiert nach unten in den Rachenraum, rutscht panisch geworden die Speiseröhre hinab, um dann im Magen zu landen. Und was macht sie dort? Fliegt eine Acht nach der anderen!
Kurzum: Die fliegende und krabbelnde Gefahr musste raus! Man wollte ja nicht gleich zur Klatsche greifen. Folglich wurde die Balkontür weit geöffnet in der Hoffnung, dass sich der ungebetene Gast prompt ins Freie begebe. Drei Minuten gewartet, fünf Minuten gewartet, doch der Flugakrobat blieb drinnen und setzte sich stattdessen tollkühn auf besagte Küchenlampe, nachdem er um dieselbe noch eine letzte Schleife gezogen hatte. Die Fliegenklatsche verwirbelte übungshalber zunächst etwas Zimmerluft, und dann hat’s patsch gemacht. Gerächt hat sich das Getier schon, denn die angerichtete Sauerei war ordentlich.
Kleine Fluchten
Auf gewohnter Schiene dahingeglitten, und mir nichts, dir nichts dominiert die Alltagsnorm. Man ordert in der Stammkneipe sein Standardgetränk, kauft im Supermarkt sein Standardshampoo, macht sonntags seinen Standardspaziergang, bucht im Reisekatalog ein Standardzimmer, praktiziert beim Liebesakt seine Standard…, ach, lassen wir das, bringt beim politischen Streitgespräch seine Standardargumente und merkt vor lauter „Standard“ gar nicht mehr, dass sich überall Verschnarchtes breitgemacht hat.
Wie wär’s mit kleinen Fluchten aus ritualisierter Behäbigkeit? Sonntags nicht immer durch den Wald traben, sondern am Flussufer entlangspazieren? Oder beim Bäcker nicht immer auf das Wurstbrötchen zeigen, sondern auf den Gemüsekuchen? Oder im Stadtbus nicht immer stur sitzenbleiben, sondern mal den Platz anbieten? Und im Stadion bei Rückstand nicht immer in der Nase bohren, sondern mit den Fingern schnippen.
Ab und zu die Haare gegen den Strich gebürstet, und die Kopfhaut wird ordentlich durchlüftet!
Hui und pfui!
Vor 2000 Jahren schrieb der römische Dichter Vergil, immer sei „die Frau ein wechselhaftes und veränderliches Wesen“. Und heute? Dasselbe, denn am MON-TAG huscht sie am Schaufenster vorbei, aber Papageienschnabel, Kokosnuss und Segelschiff holen sie zurück. Diese Insignien exotischer Unbeschwertheit finden sich auf einer ausgestellten Sommerhose und lassen sie sofort von den Karibischen Inseln träumen. Bei genauem Hinsehen sind noch ein Seestern, eine Papaya und eine Orchidee auszumachen – und das alles auf weißem Grund. Dann gibt sie sich einen Ruck und geht doch weiter.
Am DIENSTAG steht sie ganz bewusst vor dem Schaufenster. Die ganze Nacht ist ihr die Hose durch den Kopf gegangen. Ziemlich bunt, ja ausgefallen ist diese Textilie schon, etwas Besonderes eben. Bei welcher Gelegenheit zieht man so etwas an? Welche Schuhe und welche Blusen passen dazu? Ist der Preis nicht zu hoch? Dennoch gefällt ihr diese wunderschöne Hose, aber in die Boutique gehen …?
Am MITTWOCH ist sie drin, hat die Hose an und steht vor dem Spiegel. Nicht zu lang, nicht zu kurz, nicht zu weit, nicht zu eng. Passt wie eine Eins! Die Verkäuferin säuselt routiniert: „Nichts Alltägliches, nichts Gewöhnliches, nichts Gängiges!“ – „Aber der Preis!“ – „Ich bitte Sie: bei der Qualität!“ Die so Überzeugte verlässt beschwingt mit einer Tüte unter dem Arm die Boutique.
Am DONNERSTAG kommen die ersten Zweifel. Ins Büro kann sie die Hose nicht anziehen und ins Kino und ins Theater auch nicht. Zu paradiesvogelhaft! Bestenfalls in den Sommerurlaub mitnehmen, aber da trägt sie eher kurz. Was feixt der Gatte? „Aloha am Chiemsee!“ Nicht doch! War das wirklich ein Fehlkauf – zu spontan, ziemlich unüberlegt?
Am FREITAG stöbert sie, natürlich ganz unverbindlich, nach etwas Funktionellem. Die Gelegenheit ist günstig, denn eine andere Verkäuferin ist zugange. Vielleicht lässt sich etwas Alltägliches, Gewöhnliches, Gängiges finden, das sie zu jeder Gelegenheit anziehen kann. Ohne Schnabel, Nuss, Schiff, Stern, Frucht und Blume. Nicht paradiesvogelhaft. Tatsächlich lässt sie sich eine italienische Markenjeans zurücklegen. Auch teuer!
Am SAMSTAG dann die Umtauschaktion. Ob der Differenz springen noch Söckchen heraus, ganz besondere, keineswegs gewöhnliche, jeweils mit aufgestickter Ananas. Ein wenig Karibische Inseln, aber nicht zu auffällig. Nur ganz kurz zum Träumen.
Falsches Denken
Beklage man sich nicht, wenn sich ein paar Wölkchen unter die Sonne schieben und das Sommerblau verzieren. Im November hat man davon geträumt, als einem das Permanentgrau mächtig auf die Stimmung schlug.
Stöhne man nicht, wenn die Sonne wieder zornig herabsticht und die Haut brennen lässt. Im Dezember hat man davon geträumt, als der kalte Ostwind einem die Tränen aus den Augen trieb.
Fluche man nicht, wenn sommers das Wageninnere zur Sauna mutiert und den Schweiß aus den Poren zieht. Im Januar hat man davon geträumt, als man morgens das Eis von der Windschutzscheibe kratzte.
Schreie man nicht, wenn man sich im Sommerurlaub im heißen Sand die Fußsohlen anschmort. Im Februar hat man davon geträumt, als in der heimischen Wohnung plötzlich die Fußbodenheizung ausfiel.
Es scheint so, dass Schopenhauer recht hat: „Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt.“
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