Hämmerle. Jochen Rinner
Zimmer und telefoniert. Kessler geht sofort ran. Er könne erst morgen Mittag kommen.
„Das Casino liegt auf meinem Weg, ich halte bei Ihnen, dauert nicht lange.“
Er sagt das, obwohl er noch gar nicht weiß, wo Frau Le wohnt und ob sie überhaupt zu Hause ist. Wo hat er den Zettel, den ihm der Chef über den Tisch geschoben hat, auf dem auch die Telefonnummer steht? Er hatte ihn zum Aufnahmegerät gelegt und er kann nur in einer der vielen Schreibtischschubladen stecken, die er der Reihe nach aufreißt. Er fängt am falschen Ende an und findet den Zettel in der letzten, eilt zu den Aufzügen und wartet fiebernd. Es dauert ihm zu lange und er eilt zur Treppe, hört auf der ersten Stufe, wie die Tür des Fahrstuhls aufgeht, rennt zurück und bekommt gerade noch den Fuß dazwischen. Bloß gut, dass ihn jetzt keiner gesehen hat.
Der Einlassdienst vom Casino, ein auf freundlich getrimmter Bodyguard, dem das Jackett über der Schulter spannt und in dessen linkem Ohr ein Platinring matt schimmert, geleitet ihn zum Büro seines Chefs, der im gleichen Moment ankommt und ihn irgendwie zu freundlich begrüßt.
Er rätselt, wie diese Absprache eben gelaufen ist. Dieses gleichzeitige Ankommen vor der Bürotür war kein reiner Zufall.
Freundlich bittet Kessler ihn in sein Büro und schließt die offenbar schalldichte Tür. „Wie kann ich helfen?“
„Wie kann ich helfen?“, so ein Schleimer, denkt Hämmerle und weiß, wenn er ihm jetzt in die Karre fährt – und er verspürt den zwingenden Drang dazu –, vermasselt er es. Nachdem er sich gesetzt hat, sagt er: „Herr Kessler, Sie werden verstehen, dass wir bisher den Todesfall nach der üblichen Routine abgearbeitet haben. Nach unserem Gespräch letztens bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, Sie um Ihre Fingerabdrücke zu bitten, aber die Kollegen bestehen darauf, sie wollen ihren Bericht schreiben, und da ich sowieso in Ihrer Richtung unterwegs war …“
„Ja, kein Problem, wie wollen wir das machen?“
Er zieht die Folien aus der Tasche. „Ganz unbürokratisch. Ich rolle Ihnen alle zehn Finger der Reihe nach hier drauf ab.“
Kessler quält sich hoch, kommt um seinen monströsen Schreibtisch und schiebt dabei die Manschetten etwas hoch. „Also wie?“
Fritz Hämmerle zeigt es ihm und die Abdrücke sind bald erledigt. Gleichwohl meint er zu spüren, wie Kesslers Atem sich verändert und sich ein leichtes Pressen einstellt. Ist es für ihn jetzt doch eine Demütigung, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen? Er steht seitlich neben Kessler, rollt ihm die Finger der Reihe nach auf die Folie und sieht ihn nicht, hat aber das Gefühl, er springt ihm gleich ins Genick.
„Das war’s schon, vielen Dank. Wenn Sie mich entschuldigen, ich sollte gleich weiter.“
Kessler verschwindet in einer Nische und antwortet, während er wohl seine Hände wäscht: „Ich will sie nicht aufhalten. Jon bringt sie wieder raus.“
„Ach, Herr Kessler, fast hätte ich’s vergessen, wir brauchen auch noch einen DNA-Abgleich. Hier ist noch so ein Stäbchen.“
Kessler tut auch das, wortlos, aber er lässt galant durchblicken, dass es ihm jetzt reicht.
Fritz Hämmerle rutscht aufatmend in seinen Autositz und murmelt: „Kessler, diese Masche hältst du nicht durch, es ist völlig wider deine Natur.“
Aber er gesteht sich ein, wohl eher danebenzuliegen. Er muss diese Masche jetzt durchziehen, das wird Kessler klar sein.
Er ändert im Navi das Ziel und bezweifelt, sich jemals ohne dieses Teil in dieser großen Stadt zurechtzufinden.
Zu Frau Le dauert es eine halbe Stunde, und wenn er von dort über den Außenring fährt, hätte er es nicht weit bis nach Hause. Also erledigt er das noch, wird schon nicht so lange dauern. Und heute kein Präsidium mehr.
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Als sie aus dem Wald herauskamen, schien ihnen die frühe Sonne ins Gesicht. Sie leckte den Tau der Herbstnacht von den Dächern. Dieser stieg behäbig auf, kräuselte sich himmelwärts und verschwand im Licht. Wenn es so windstill blieb, würde es richtig warm werden.
Autos kamen ihnen entgegen, oft recht schnell. Sie alle waren wohl unterwegs in die Kreisstadt und schon spät dran für die Arbeit. Die anderen arbeiteten im Sägewerk, den Gasthöfen und Pensionen, bei den wenigen Handwerkern oder im Laden, der sich, so klein er war, Supermarkt nannte.
„Wir sollten endlich anrufen“, sagte Fritz Hämmerle.
„Bringt das jetzt noch was? Sind doch gleich da.“
„Wir haben gestern gesagt, wenn wir losfahren, rufen wir an, und die lieben Kollegen hätten vielleicht doch gern eine Vorwarnung.“
„Der Markt hat schon auf, wir könnten noch Proviant fassen, falls wir länger dort oben sind.“
Maik fuhr auf den Parkplatz und telefonierte, während Fritz Hämmerle im Gehen eine Münze für den Wagen suchte, und am Wurstregal fast den Wachtmeister umrempelte, der in der gleichen Absicht hier war.
Wieder draußen begrüßte ihn Maik: „Ihre Frau Wegmüller ist beunruhigt, weil Sie noch nicht da sind.“
„So schlimm wird’s nicht sein. Sie trinkt ihren Kaffee morgens gern auch mal allein.“
„Sie kommen mit uns, nehme ich an, geht sowieso nicht anders.“
Süß kam gleich zur Sache: „Wenn dieser Mann, den wir nicht kennen - oder wissen sie inzwischen, wer er ist?“
„Nein, leider nicht.“
„Also, nehmen wir an, er war tatsächlich in den Pilzen, dann kannte er diese Stelle. Die Pilzgänger parken am Hochmoor oben in Riedbach. Die sind mit ihrem Korb nicht aufs Klettern aus und nehmen eher nicht den steilen Pfad, der unterhalb vom Steinbruch abzweigt.“
„Sie wollen sagen, wir machen das ebenso.“
„Ja.“
„Wie kommen wir nach Riedbach?“
„Mit dem Auto von hier dreißig Kilometer.“
„Luftlinie ist das ein Katzensprung. Sind wir nicht schneller zu Fuß?“
„Sie schon.“
Jetzt hakte Maik Haberland ein: „Wir wissen nicht, was wir alles brauchen, ein Pilzkorb wird vielleicht nicht reichen. Können wir vom Hochmoor aus noch weiter heranfahren?“
„Ja, für die Touristen gibt es die Sperrscheibe und der Förster kennt keine Gnade. Mit Ihrem Auto kommen wir fast bis hin. Treffen wir uns also an der Station, das geht alles nicht ohne meinen Chef und Anja Wegmüllers Kaffee.“
Den Kaffee sparten sie sich auf, bis sie wieder zurück waren. Piper beschloss mitzufahren und sie gingen zum Auto.
Wachtmeister Süß trug tatsächlich einen Pilzkorb.
„Wollen Sie die Szene nachspielen?“, fragte Maik Haberland.
„Bestimmt nicht, aber in der Zeit, in der sie mich nicht brauchen, wird der Korb voll, Sie werden sehen.“
„Sie sind einer von denen“, bohrte Maik Haberland weiter, „die illegal durch den Zaun gehen?“
„Illegal nicht, unser vorvorletzter Chef hat mich nach den zwei Todesfällen mit der Kontrolle beauftragt, ohne Befristung. Anfangs bin ich durch das Tor gegangen, aber seit der Schlüssel weg ist – wann war das, vielleicht vor einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren? -, blieb nur das Loch im Zaun.“
„Du hast nie einen Bericht über diese Kontrollen geschrieben“, kam es von seinem Chef.
„Sollte ich das?“
„Zumindest wollen wir wissen, wie viel Pilze du im Korb hast.“
Damit wich wenigstens etwas von dem Frust. Sie wussten alle nicht so recht weiter. Anja Wegmüller kam mit dem Telefon angerannt und holte ihren Chef zurück.
„Tut mir leid“,