Waltraut Neubert. Carolina Dahle

Waltraut Neubert - Carolina Dahle


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Reformbemühungen standen.

      Eine weitere Quelle für die Forderungen nach einem reicheren Schulleben bildete die Lebensphilosophie W. Diltheys (1833 – 1911). Leben und Erleben in seiner ganzen Fülle waren bei ihm zentrale Ausgangspunkte seiner Philosophie, und alles geistige menschliche Leben war für ihn eingespannt in den Dreischritt von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen. Viele Reformpädagogen wurden durch die Philosophie Diltheys geprägt. Es gab eine eigene Richtung, die sich Erlebnispädagogik nannte. Hieran knüpft die Studie von W. Neubert an:

       „Neben der Arbeit ist das Erlebnis der methodische Grundbegriff der modernen Pädagogik. Die Schule soll, wie das Haus, ein Erlebnisfeld des Kindes sein. Sie soll so gestaltet werden, dass es in ihr wesentliche Lebensbezüge erfahren kann: zunächst die menschlichen, wie Freundschaft, Führertum, Gemeinschaft. Dann die sachlichen zu Religion, Kunst und Wissenschaft. Hier soll es wieder die einzelnen Fächer erleben, von Geschichte und Deutsch bis zu Grammatik und Rechnen.

      „Jede Unterrichtsstunde soll zum Erlebnis werden“ (E. Weber, 1907). Und schließlich soll es aus dem Erlebnis heraus schöpferisch sein. Alles, was es selbst gestaltet, in Aufsatz und Zeichnen·, Musik und Tanz, soll aus dieser Quelle gespeist werden.“ [Einleitung]

      Die Erlebnispädagogik erhält gegenwärtig kräftige Anstöße. Die aktuelle Schulkritik stellt als besonderen Nachteil der „verschulten Gesellschaft“ die Monopolisierung des Lernens in der öffentlichen Schule heraus, durch die auch das Lernen selbst verdorben würde. Das meiste Wissen werde ohnehin außerhalb der Schule erworben; es wird zudem Falsches gelernt, was man schnell vergisst und nie wieder benötigt. Wie man lebt, lernt man jedenfalls primär außerhalb der Schule. Die sterile, weltferne schulische Umgebung trennt die Kinder von ihren Erfahrungen, wodurch Separation sowohl vom Leben als auch von der Erwachsenenwelt erfolgt. Einer der schärfsten Schulkritiker nennt die Schule eine „Enklave“, die „primitiv, magisch-gebunden und von tödlichem Ernst“ geprägt ist (l. lllich). Durch die Verbannung des Lebens aus der Schule und durch die Konzentration auf objektiv überprüfbaren Unterricht werden die Schüler zur Anpassung gezwungen; sie müssen Langeweile aushalten, Unverständliches und Widersprüchliches lernen. Dadurch bleiben wichtige Tugenden auf der Strecke: u.a Unabhängigkeit, Initiative, rücksichtslose Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit. Gefordert werden deshalb z.B.: stärkere Berücksichtigung der Kinder, des Lebens, Freiräume für Eigeninitiative und Erfahrung, mehr Mitbestimmung von Eltern und Kindern und durch alles die Entfaltung eines eigenen Lebensbereiches innerhalb der Schule.

      Die Wiederentdeckung der Erlebnispädagogik basiert also auf der sich verschärfenden Schulkritik; aber auch andere Institutionen öffentlicher Erziehung sind in das Kreuzfeuer der Kritik geraten (Heime, Strafvollzug u.a.). So erhielt die Suche nach Alternativen Nahrung. Und wer vorausdenken will, muss zunächst die gegenwärtige Situation bedenken und über die Entwicklung nachdenken.“

      Diesem sachlichen Rückbezug dienen die von Waltraut Neubert getroffenen Aussagen, indem frühe Erkenntnisse zusammengefasst wurden, die auch für heutige Überlegungen nicht unwichtig erscheinen.

      In der Dissertation von Waltraut Neubert kommt das Wort „Erlebnispädagogik“ nur ein einziges Mal vor; ansonsten arbeitet sie weitgehend mit den Termini Erleben und Erlebnis. Sie also als „Erlebnis-Pädagogin“ auszuzeichnen, erübrigt sich. Wohl aber hat sie den Humus angereichert, auf dem ich dann Anfang der 1980-er Jahre den Begriff „Moderne Erlebnispädagogik“ aus der Taufe hob, prägte und damit gleichzeitig den Grundstein für eine wissenschaftliche Fundierung legte.

      Dass die Erlebnispädagogik inzwischen als eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft gilt und allgemein akzeptiert wird, ist der Verdienst meiner jahrzehntelanger Bemühungen im Rahmen des von mir begründeten und geleiteten „Instituts für Erlebnispädagogik“ an der Leuphana Universität Lüneburg, wobei insbesondere mein damaliger Mitarbeiter und späterer Hochschulkollege, Prof. Dr. Torsten Fischer, für theoretische Vertiefungen und empirische Belege sorgte.

      Die Begründung der Schriftenreihe „Wegbereiter der Erlebnispädagogik“ hatte in diesem Forschungszusammenhang eine wichtige Funktion, wurde das Fragezeichen doch explizit betont und nach herausragenden Pädagoginnen und Pädagogen gesucht, denen möglicherweise eine Wegbereiterrolle zugebilligt werden konnte. Oftmals wurden wir fündig, manchmal auch nicht. Der pädagogische Teppich ist und bleibt bunt.

Lüneburg, im Sommer 2020Jörg W. Ziegenspeck

      1 Einleitung

      Im Jahr 1925 schrieb Waltraut Neubert ihre Dissertation über das Erlebnis in der Pädagogik bei Herman Nohl in Göttingen. Obwohl derzeit sehr wenig über die Arbeit und die Autorin bekannt ist, war ihr Werk Ende der 1920er Jahre in pädagogischen Fachkreisen und an den Pädagogischen Akademien und Universitäten sehr geschätzt. Dies geht aus einem Schreiben des wissenschaftlichen Verlages Vandenhoeck und Ruprecht hervor, das Waltraut Neubert 1931 erreichte. In diesem Brief geht es um die dritte Auflage ihrer Dissertation, die fertiggestellt werden sollte, da die vorherige Auflage aufgrund des regen Gebrauchs an pädagogischen Akademien schon fast ausverkauft sei. Obwohl Waltraut Neubert einige Veränderungen vornehmen wollte, bat der Verlag darum, den Inhalt nicht zu erweitern, um ihr Werk immer noch für zwei Mark verkaufen zu können. Ein höherer Preis würde sich – so der Verfasser des Briefes – negativ auf den erhofften Absatz auswirken. (Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 1931: o. S.)

      Der Frage, warum Waltraut Neubert in jüngerer Zeit weder im praxisorientierten Diskurs noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine Rolle spielt, müsste nachgegangen werden. Das umso mehr, als sie z. B. von Fischer und Ziegenspeck als Schöpferin des Begriffs Erlebnispädagogik (Fischer / Ziegenspeck 2008: 10f.) und in einem Lexikon-Beitrag (Kopp 1970: 559) sogar als Begründerin tituliert wird. Ihre Arbeit wird sogar zu einem ersten Meilenstein der modernen Erlebnispädagogik gezählt: „Die Erlebnispädagogik hatte um 1930 ihren (ersten) Höhepunkt. In der Dissertation von Waltraut Neubert, einer akademischen Schülerin Prof. Dr. Herman Nohls (Universität Göttingen), dürfte das transparent werden […].“ (Ziegenspeck 1992: 139; Hervorh. im Orig.)

      Wie dieser Höhepunkt ausgesehen und welche Themen Waltraut Neubert in ihrer Dissertation genau behandelt hat, soll in der nachfolgenden pädagogisch-biografischen Skizze untersucht werden. Dafür liegt die dritte Auflage der Arbeit von 1932 vor, welche auch die Basis für die Neuerscheinung 1990 war. (vgl. Neubert 1932a und Neubert 1990)

      Da die Zeit und die Lebensumstände große Auswirkungen auf ihr pädagogisches Denken und Handeln hatten, wird zunächst Neuberts Biografie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Informationen über Neuberts Leben entstammen den Nachlässen Herman Nohls und Erich Wenigers an der Universität Göttingen, in denen zahlreiche Briefe und Dokumente von Neubert, Nohl und Weniger erhalten sind.

      Weitere sehr wertvolle Informationen konnten durch einen Kontakt mit Waltraut Neuberts Neffen in Erfahrung gebracht werden.

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