Goldmarie auf Wolke 7. Gabriella Engelmann
Entschlossen zu helfen, folgte ich der Fährte auf gut Glück. Dass es um diese Uhrzeit bereits dunkel war, erschwerte die Suche natürlich, doch ich wollte nicht aufgeben. Alle anderen Passanten waren einfach weitergegangen, als sei nichts passiert, und auch der Autofahrer hatte nach seinem abrupten Bremsmanöver einfach wieder aufs Gaspedal getreten.
Ich stolperte durch die Dunkelheit, kletterte einem inneren Gefühl folgend über den nächsten Zaun und befand mich schließlich in einem Hinterhof, der nur durch den Lichtschein aus einigen Fenstern erhellt wurde. Als ich den antiken Brunnen sah, glaubte ich zunächst an eine optische Täuschung, so verzaubert sah dieser Ort aus. Doch er war real und traumhaft schön.
Das Becken selbst war schlicht gemauert, doch die Figur in der Mitte wirkte antik und kunstvoll gestaltet. Es war eine zierliche Frau, um deren Schulter eine fein gemusterte, griechische Toga geschlungen war. In der rechten Hand hielt sie einen überdimensional großen Schlüssel, am linken Arm einen Obstkorb. Auf ihrer kunstvoll geflochtenen Frisur thronte wie eine Krone ein steinernes Schloss. Die Brunnenkönigin selbst stand mit einem Bein auf einem liegenden Löwen, mit dem anderen auf dem Brunnenrand. Den Löwen schien das überhaupt nicht zu stören, denn er lächelte.
Während der Stein an vielen Stellen dunkelgrau verwittert und bemoost war, schimmerte das Becken in goldenem Glanz. Bevor ich nach einem Froschkönig Ausschau halten konnte, hörte ich es dicht neben mir rascheln. Ich bückte mich und sah plötzlich das Tierchen, nach dem ich gesucht hatte. Es schaute mich mit dunklen Knopfaugen an und zitterte dabei wie Espenlaub. Ohne zu wissen, ob das eine wirklich gute Idee war, hob ich es auf, drückte es an meine Brust und streichelte sein pelziges Köpfchen. Dann rief ich per Handy die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer eines tierärztlichen Notdienstes.
»Ist Honeypie etwas passiert?«, hörte ich auf einmal eine Stimme, die zu einer älteren Dame gehörte. Ihr schneeweißes Haar war zu einem Knoten geschlungen und sie wirkte, als sei sie direkt aus den Seiten eines Märchenbuchs geschlüpft.
Ich nahm das Handy vom Ohr, drückte den Aus-Knopf und schaute die Dame verwundert an. Behutsam nahm sie mir das Tierchen vom Arm, flüsterte ihm in einer mir unverständlichen Sprache etwas ins Ohr und lächelte mich schließlich freundlich an. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich um meinen Liebling gekümmert haben. Die Kleine ist ausgebüxt und ich habe mir schon große Sorgen gemacht.«
»Sie wurde von einem Auto angefahren und sollte deshalb dringend zum Tierarzt«, erklärte ich und konnte mich kaum vom Anblick der beiden lösen.
Was war Honeypie für ein Tier?
Es ähnelte einem Marder und war unheimlich knuffig.
Die Fremde legte die Stirn in Falten, nickte und streichelte das pelzige Wesen. »Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich um meine Süße gekümmert haben?«, fragte sie und ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ein Teil von mir glaubte zu träumen. »Ach was, das hab ich doch gern gemacht. Hauptsache, es geht Honeypie bald wieder gut.«
»Haben Sie vielleicht Lust, morgen Nachmittag zum Tee zu mir zu kommen? Ich würde Sie ja auch jetzt sofort einladen, aber ich möchte mein Frettchen schnellstens zum Tierarzt bringen.«
Ich nickte und murmelte: »Gern.« So also sahen Frettchen aus.
»Dann kommen Sie doch morgen gegen vier vorbei und melden Sie sich in meinem Laden Traumzeit, gleich neben Home & Garden. Ich heiße übrigens Nives Hulda.«
»Ich bin Marie Goldt, aber Sie können mich sehr gern einfach nur Marie nennen und duzen«, antwortete ich, ganz überwältigt von dieser unverhofften Begegnung.
Honeypie und Nives waren ein seltsames Paar.
Aber ich hatte große, große Lust, die beiden näher kennenzulernen.
11. Lykke Pechstein
(Mittwoch, 16. November 2011)
Dear Diary,
halleluja, endlich haben sich die lahmen Schnecken vom Acker gemacht! Hab schon gedacht, ich müsste mich ewig an der Straßenecke rumdrücken und mir ’ne Lungenentzündung holen, bloß weil die sonst so überkorrekte Marie heute ausnahmsweise mal nicht in die Gänge gekommen ist. Und weil Ma heute beim Styling für das millionste Vorstellungsgespräch stundenlang im Bad rumtrödeln musste. Aber nun habe ich endlich sturmfreie Bude und kann mich gleich wieder ins Bett legen und Musik hören, anstatt sinnlos in der Schule abzuhängen. Ich könnte aber auch schlafen. Oder darüber nachdenken, warum Marie bei Ludmilla gekündigt und Ma jetzt die fixe Idee hat, ich sollte mich da bewerben. Ich hab echt gedacht, ich käme um einen Zusatzjob drum herum, aber es scheint ihr ernst zu sein. Sie hat mir eine Frist von zwei Wochen gesetzt, um mir etwas zu suchen. Mann ey, ich hab echt keine Lust, mich in diesem Billighöker von Bäcker zum Horst zu machen und den Kunden Puderzucker in den Hintern zu blasen. Da hängen teilweise so assige Leute rum, dass ich schon Anfälle bekomme, wenn ich bloß dran denke. Diesen Mist konnte auch nur unser ENGEL DER BARMHERZIGKEIT aushalten. Warum muss eigentlich in meinem Leben immer alles so kompliziert sein? Warum kann ich nicht wie andere auch in einer Familie leben, in der Dad bei seinen Freunden die Fotos auf den Tisch knallt, frei nach dem Motto ›Mein Haus, mein Auto, mein Labrador, meine Familie‹. Von mir aus auch in umgekehrter Reihenfolge. Aber nein, ich hab natürlich das Pech – nicht nur in meinem saublöden Nachnamen, nein, ich ziehe es auch noch an. Reingeboren in eine Loserfamilie ohne das klitzekleinste bisschen Aussicht auf Besserung. Boah, ich bin jetzt todmüde. Gute Nacht, liebes Tagebuch – ich hau mich hin.
Deine Lykke, die alles satthat.
12. Marie Goldt
(Mittwoch, 16. November 2011)
»Bist du Marie?«, fragte ein elfenhaftes Wesen, das über den dunklen Dielenboden von Traumzeit zu schweben schien. »Ja, genau«, antwortete ich und sah mich erwartungsvoll um. Der Laden wirkte gemütlich, aber gleichzeitig klar und aufgeräumt. »Nives ist noch in einer Sitzung, aber ich soll dir ausrichten, dass sie sich sehr auf deinen Besuch freut. Magst du schon einen Tee oder willst du dich lieber erst einmal umschauen? Ich heiße übrigens Niki.«
»Was für Sitzungen sind das denn?«, erkundigte ich mich neugierig. Traumzeit war auf den ersten Blick ein normales Fachgeschäft für alles rund um das Thema Bett, also Matratzen, Lattenroste, Gestelle, Bettwäsche.
Niki rollte ihre großen strahlend blauen Augen, die mit schwarzem Kajal umrandet waren. Unter den unteren Lidrand hatte sie sich eine extra Reihe Wimpern gemalt und eine silberne Perle angeklebt. »Nichts Besonderes, nur ein bisschen Leute verhexen«, antwortete Niki und legte beim Lächeln eine Reihe schneeweißer Zähne frei. Ihren oberen Schneidezahn zierte ein glitzernder Stein.
»Und das kann sie wirklich gut!«, bestätigte ein Typ, der gerade aus dem hinteren Teil des Raums auftauchte. Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, warf seine Lederjacke über die Schulter und verließ dann mit einem lässigen »Schönen Nachmittag, Ladys« den Laden. »Das war übrigens Dylan O’ Noonan«, erklärte Niki und schaute ihm versonnen hinterher. »Er ist Ire und Nives’ Hexenkünsten verfallen wie kein Zweiter.«
»Papperlapapp, Hexenkünste! Was redest du denn schon wieder für einen Unsinn, Niki? Du verschreckst Marie«, wies Nives Hulda, die nun ebenfalls zu uns getreten war, ihre Mitarbeiterin sanft, aber bestimmt zurecht. »Es tut mir leid, dass meine Sitzung länger gedauert hat, aber Veränderungen brauchen eben ihre Zeit. Alles dauert so lange es dauert!«
Ich verkniff mir ein Grinsen, weil der letzte Satz auch aus dem schier unerschöpflichen Zitaten-Schatzkästchen von Dr. Willibald Hahn hätte stammen können.
»Aber nun komm mal mit Marie, Niki schafft das hier auch allein, nicht wahr?«
»Aber klar doch, Boss, auch wenn ich nichts gegen ein bisschen Hilfe einzuwenden hätte. Die Biberwäsche-Muttis sind wieder im Anmarsch, und um dieser Invasion standhalten zu können, braucht man Nerven wie Drahtseile.« Nives hob ihre linke Augenbraue: »Halt dich mal ein wenig mit deinen bissigen Kommentaren zurück. Diese Muttis zahlen dir immerhin dein Gehalt«, entgegnete sie und dirigierte mich in Richtung Hintertür, aus der vorhin der Ire gekommen war.
Wir