Der tiefe Graben. Ezra Klein
von einem scharfen, sogar mitunter gewaltsam ausgetragenen Dissens zerrissen worden wäre; es ist einfach so, dass diese Kämpfe sich nicht klar und eindeutig bestimmten Parteien zuordnen ließen.
Das konnte nicht lange so weitergehen und tat es auch nicht. Die Hinwendung der Demokratischen Partei zu den Bürgerrechten und die Entscheidung der Republikanischen Partei, sich hinter einem Fahnenträger zu versammeln, der dem Gesetz ablehnend gegenüberstand, machte den Weg für südliche Konservative in die Republikanische Partei frei. Und dies bereitete die Bühne für alles, was darauf folgte.
Polarisierung ist nicht Extremismus, sondern Sortierung
Bevor wir zu dem kommen, was alles darauf folgte, möchte ich ein Wort darüber sagen, was Polarisierung ist und was nicht. Unter Politikwissenschaftlern gibt es schon seit langer Zeit eine Debatte, ob die USA sich polarisieren oder einfach nur sortieren. Darüber hinaus wird auch schon länger ein öffentlicher Diskurs geführt, in dem die Begriffe »polarisiert« oder »parteilich« als Synonyme für »extrem« benutzt werden. Um der Klarheit willen möchte ich beides ansprechen.
Lassen Sie uns mit Polarisierung versus Sortierung beginnen und als Beispiel den Umgang mit Cannabis benutzen. Stellen Sie sich ein Amerika vor, das von genau 100 Personen bewohnt wird, von denen 40 Cannabis verboten sehen wollen, 40 Cannabis legalisiert sehen wollen und 20 nicht sicher sind. Finden sich in der Demokratischen und der Republikanischen Partei jeweils dieselbe Anzahl von Mitgliedern aus jeder Gruppe wieder, dann ist Amerika vollkommen unsortiert.
Nun stellen Sie sich vor, dass alle, die Cannabis legalisiert sehen wollen, in die Demokratische Partei gehen, alle, die Cannabis verboten sehen wollen, in die Republikanische Partei und die unentschiedenen Wähler sich zu gleichen Teilen auf beide Parteien aufspalten. Nun sind die Parteien perfekt sortiert, aber – und das ist der entscheidende Punkt – niemandes Meinung hat sich eigentlich verändert. Es gibt in beiden Beispielen immer noch denselben Mix von Überzeugungen im Hinblick auf Gras. Nur dass sich im zweiten Beispiel diese Überzeugungen nach Parteien sortiert haben.
Das also ist Sortierung. Nun lassen Sie uns das Beispiel noch einmal nachjustieren. Stellen Sie sich vor, die Unentschlossenen bilden sich eine Meinung. Jetzt wollen 50 Amerikaner Cannabis legalisieren, und 50 wollen es verbieten. Das ist Polarisierung: Es ändern sich die Meinungen selbst und docken an zwei Pole an. In der Mitte ist niemand mehr.
Hans Noel, Politikwissenschaftler an der Georgetown University, zufolge ist Sortierung lediglich eine Subkategorie von Polarisierung.[16] Praktisch gesehen, so schreibt er, hätten beide »zur Folge, dass sich die Spannung zwischen den beiden Enden des Spektrums erhöht«, genau das also, was mit dem Begriff Polarisierung beschrieben werden soll.
Ich stimme Noel zu, gehe aber noch einen Schritt weiter. Die Debatte Polarisierung versus Sortierung ist besser zu verstehen, indem man themenbasierte Polarisierung und identitätsbasierte Polarisierung gegenüberstellt. Beide Cannabis-Beispiele zeigen, wie sich Menschen um einen Pol herum zusammenfinden. Nur dass in dem einen Beispiel die Pole, um die sie sich scharen, ihre politischen Überzeugungen widerspiegeln und im anderen ihre politischen Identitäten.
Im Grunde ist es so, dass sich diese Formen der Polarisierung wechselseitig verstärken. Themenbasierte Polarisierung führt zu einer Polarisierung der politischen Identitäten: Herrscht eine stärker ausgeprägte Uneinigkeit in Bezug auf die Cannabis-Politik, dann werden sich die Menschen von ihren politischen Repräsentanten wünschen, für ihre Überzeugungen zu kämpfen, was dazu führen wird, dass die Parteien sich ebenfalls um dieses Thema herum polarisieren.
Nun könnten Sie argumentieren, dass dies genau das gewesen sei, was im oben genannten Beispiel passierte, als die intensive Polarisierung in Bezug auf das Thema Bürgerrechte die Polarisierung der Parteien im Hinblick auf dieses Thema antrieb. Die Goldwater-Kampagne war der Versuch, die politische Gelegenheit beim Schopf zu packen, indem man wütenden, radikalen Konservativen eine Heimat bot, was letztlich dazu führte, dass sich jene radikalen Konservativen in der Republikanischen Partei konzentrierten und umgekehrt.
Natürlich stimmt auch das Gegenteil: Wenn Menschen ihre Meinungsverschiedenheiten nach Parteien sortieren, kann das dazu führen, dass sich diese Meinungsverschiedenheiten vertiefen. Wenn Menschen sich in zwei Parteien sortieren, und zwar entlang der Achse der ihrer Meinung nach idealen Marihuana-Politik, dann werden diese beiden Parteien zunehmend klarere Positionen in dieser Frage anbieten, und die Unentschiedenen werden dazu gedrängt werden, eine Entscheidung zu treffen, wodurch sie die im Lande herrschenden Meinungen zu Cannabis weiter polarisieren.
Polarisierung erzeugt Polarisierung. Doch sie bringt keinen Extremismus hervor. Wir nehmen häufig an, dass Wähler und politische Systeme, die sich auf halbem Wege entgegenkommen, weniger extrem sind als die, die dies nicht tun, doch dieses Konzept erweist sich bei genauerer Betrachtung als inkohärent.
1965 taten sich die meisten republikanischen Senatoren mit der Demokratischen Partei zusammen, um Medicare zu schaffen, eine öffentliche, staatlich finanzierte Krankenversicherung für ältere Bürger. 2010 stimmte nicht ein einziger Republikaner im Kongress für Obamacare, ein Bundesgesetz, das den Zugang zur Krankenversicherung neu regeln sollte und nach dem Vorbild des Systems gestaltet war, das der republikanische Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, eingeführt hatte. Egal welcher Definition zufolge, das System von 2010 war stärker sortiert und polarisiert als das System von 1965. Meinungen waren besser nach Parteien ausgerichtet, und weniger Politiker fanden sich in der Mitte wieder.
Doch war das System von 2010 ideologisch extremer? Unter Zugrundelegung unserer üblichen ideologischen Definitionen würde ich argumentieren, nein, das war es nicht. Obamacare war ein öffentlich-privates System mit republikanischen Wurzeln, solide finanziert durch eine Mischung aus Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. Bei Medicare dagegen übernahm eine liberale Regierung die Gesundheitsfürsorge für die Älteren und schuf eine nach oben offene Anzahl von Berechtigten, ohne verbindlich zu regeln, wie die vollen Kosten dafür aufzubringen seien.
Und dies bedeutet, dass ideologischer Extremismus ein Konzept ist, das auf den ersten Blick einer inneren Logik folgt, was ich ebenfalls bezweifle. Was macht ein nationales, staatlich betriebenes Krankenversicherungssystem »extremer« als ein Mischsystem, das dazu führt, dass Millionen von Menschen unterversichert sind? Ersteres wird innerhalb des Handlungsrahmens amerikanischer Politik als radikaler behandelt, doch gemessen an den Standards anderer hochentwickelter Industriestaaten ist das radikale (und grausame) das letztere.
Oder, um wieder auf die Hauptgeschichte dieses Kapitels zurückzukommen: In der Ära, in der Washington am wenigsten polarisiert war, ruhte der politische Konsens auf einem Fundament rassistischer Bigotterie, das die meisten von uns heute verabscheuenswürdig fänden. Die Kompromisse, die der Kongress einging, um den Frieden zu wahren, umfassten auch das Niederstimmen von Gesetzen gegen Lynchjustiz und die Übereinkunft, einem Großteil der Afroamerikaner den Zugang zu den Sozialsystemen zu verwehren. Ich würde das ein ideologisch weitaus extremeres System nennen als das, welches wir heute haben, auch wenn es weniger polarisiert war.
Politikwissenschaftler sind sich einig, dass um die Mitte des 20. Jahrhunderts die politische Polarisierung ihren Tiefststand erreicht hatte, insbesondere im Kongress. Doch die Mitte des 20. Jahrhunderts war keine Ära, in der die Welt außerhalb Washingtons abgeklärt oder moderat war. Es war die Zeit des Joseph McCarthy, des Vietnamkriegs und der Wehrdienstverweigerer. Es war eine Zeit politischer Morde, eine Zeit, in der Bürgerrechtsaktivisten auf Brücken zusammengeschlagen wurden, eine Zeit des autoritären Regierens im Süden, eine Zeit, in der Feministinnen auf den Straßen marschierten und amerikanische Ureinwohner Alcatraz besetzten. Die Ironie liegt darin, dass das politische System der USA am ruhigsten und am wenigsten polarisiert war, als Amerika selbst kurz davorzustehen schien auseinanderzubrechen.
Sie werden Fachexperten häufig von der »gemäßigten Majorität« sprechen hören. Doch wie der Politikwissenschaftler David Broockman gezeigt hat, neigen diese sogenannten Gemäßigten dazu, extremere Positionen einzunehmen als Liberale oder Konservative. Und das funktioniert so: Ein Wahlberichterstatter befragt die Leute nach ihrer Position zu einer breiten Anzahl von Themen: die Legalisierung von Marihuana, den Krieg im Irak, eine allgemeine Krankenversicherung, Homoehe, Steuer, Klimawandel und so fort. Anschließend werden die Antworten