Bildung statt Fanatismus. Bernd Lederer
Dispositionen zu bekämpfen. Letztlich geht es darum, durch den Impfstoff Bildung die Herausbildung resilienter, selbstbewusster, toleranter und sozialer Persönlichkeitsstrukturen zu fördern.
1. Fragestellungen und Zielsetzungen
Wie lässt sich die Entwicklung einer starken und gebildeten Persönlichkeit befördern? Was kennzeichnet überhaupt einen gebildeten Menschen? Welche Umstände sind im Gegenteil prädestiniert dafür, einen unkritischen, intoleranten und autoritären, im Extremfall fanatischen Charakter auszuprägen? Was wissen die Pädagogik und all jene Wissenschaften, deren Erkenntnisse sie sich bedient, über die Rahmenbedingungen und Auslöser gelingender Identitätsentwicklung? Anders gefragt: Welcher Rahmenbedingungen familiärer und gesellschaftlicher Art bedarf die Genese einer gefestigten, „resilienten“, selbstbewussten und selbstbestimmten, dabei zugleich prosozialen und empathischen, toleranten und mitmenschlichen Persönlichkeit?
Empfehlungen zu geben, wie sich starke Persönlichkeiten und gefestigte Identitäten anstelle unterwürfiger Mitläufer entwickeln, wie sich kritische Vernunft anstelle von Irrationalität und Fanatismus in all seinen Erscheinungsformen befördern lässt: In solch zugespitzten Gegensätzen lässt sich die pädagogische Absicht dieses Buches verdichten. Etwas genauer sollen also Antworten auf solche Fragen skizziert werden:
• Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff Bildung, welche humanen und emanzipatorischen Ideen bilden sich in ihm begriffsgeschichtlich ab?
• Welcher Art ist der Zusammenhang zwischen Bildung und der Entwicklung einer gefestigten Identität und emanzipierten Persönlichkeit? Was zeichnet den gebildeten Menschen eigentlich aus?
• Welche Lebensumstände, von frühkindlicher Prägung bis zu den sozialen und kulturellen Umweltbedingungen des jungen Menschen, steigern die Gefahr der Herausbildung eines intoleranten, irrationalen, unselbständigen, schlimmstenfalls fanatischen Sozialcharakters?
• Wissenschaftlicher gesprochen: Was muss bzw. sollte auf der elementarpädagogischen Ebene von Prägung und Bindung unternommen (bzw. unterlassen) werden, welche Rahmenbedingungen der Erziehung, der „Primär- und Sekundärsozialisation“ sollten gegeben sein, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer autoritären, gar fanatischen Persönlichkeit zu minimieren und umgekehrt die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines umfassend human-emanzipatorisch gebildeten Menschen zu maximieren?
Antworten hierauf speisen sich aus sämtlichen pädagogischen Teilgebieten und anverwandten Wissenschaften des Menschen und der von ihm gebildeten Gesellschaft. Entsprechend kann es hier keinesfalls um eine umfassende, inhaltlich lückenlose Zusammenschau gegenwärtiger Forschungserkenntnisse und Wissensbestände gehen. Sehr wohl jedoch ist es das Anliegen, wenngleich nur exemplarisch, so doch aussagekräftig entscheidende Faktoren und Zusammenhänge gelingender „Personagenese“ und „Individuation“, also der Herausbildung einer möglichst umfassend gebildeten Persönlichkeit zu benennen. Verdeutlicht werden die Bedeutung der Umstände und Formen von Erziehung und Sozialisation im zweiten Teil des Buches anhand ausgewählter, konkreter Fallbeispiele für extreme Formen des autoritär-fanatischen Charakters, namentlich in Gestalt des Rechtsextremismus und seiner sozusagen speziellen Erscheinungsform, des Islamismus.
2. Eine erste Bestandsaufnahme: Die komplexe Moderne als Motor kollektiver Verunsicherung
Eine kritische Zeitdiagnostik der Gegenwartgesellschaften in Industriestaaten lässt einen unter Gesichtspunkten von Aufklärung und Humanität nachgerade erschaudern: Politische und kulturelle Verschwörungstheorien grassieren ebenso wie esoterische Heilslehren und obskure Fortschrittsfeindlichkeit (man denke an die Bewegung der Impfgegner oder Anhänger der Steinzeitnahrung, an „Chemtrails“-Gläubige und „Reichsbürger“). Allenthalben erheben „Wutbürger“ ihre Stimme und hetzen in (a)sozialen Netzwerken und Onlineforen, oft genug unter Klarnamen, gegen alle, die nicht derselben Meinung sind wie sie selbst. (Schließlich haben sie selbst ja die Wahrheit gepachtet und verfügen als einzige über den ultimativen Durchblick.) Entsprechend verachten sie „die da oben, die sowieso nichts für uns tun“, die verhassten Eliten, und lenken ihre Antipathien und ihren Hass tatsächlich doch nur auf jene, die in der sozialen Hierarchie noch unter ihnen stehen, wie Migranten oder sexuelle Minderheiten. Gleichzeitig entfaltet sich ein Personenkult um antidemokratische und autoritäre Politiker vom Stile eines Trump, Putin, Orban, Erdogan, Bolsonaro, Duterte, Salvini u. v. a. m., allesamt Autokraten, die (scheinbare) Stärke, Intoleranz und Gnadenlosigkeit verkörpern. Nicht trotzdem, sondern dessentwegen werden sie von jenen bewundert und verehrt, die sich selber ohn-mächtig und zukurzgekommen wähnen oder dies nach Jahrzehnten des zusehends ungehemmt sich entfaltenden „neoliberalen“, „postdemokratischen“ (Colin Crouch), materialistischen und latent sozialdarwinistischen Kapitalismus auch tatsächlich sind. Diese autoritären und mehr oder weniger charismatischen Männer werden von autoritär strukturierten Untertanen bewundert, die dabei allzuoft als „mentale Fahrradfahrer“ agieren, also derart sprechen und handeln, wie dies in der Fahrradfahrermetapher zum Ausdruck kommt: „Nach unten treten und zugleich nach oben buckeln“. Auch ist vielfach eine Tendenz zurück zu nationalistischen, partikularistischen bis sozialdarwinistischen Geistes- und Werthaltungen festzumachen. Bezüglich antimoderner und antiaufklärerischer Ideologien ist aber auch in „westlichen“ Staaten eine zunehmende Attraktivität eines autoritären und orthodoxen („salafistischen“) Islamverständnisses zu diagnostizieren, wie er sich im Extremfall in der Sympathie mit islamistischen Terrorsekten oder in der Hinwendung zu reaktionären und fundamentalistischen Praktiken des Islam äußert, wobei gerade in Nord- und Südamerika ein radikaler Evangelikalismus sich im antimodernen Furor kaum von seiner verhassten islamischen Weltanschauungskonkurrenz verstecken muss.
Ob Obskurantismus und Aberglaube, dogmatische Religiosität wie Evangelikalismus, militanter Hinduismus und Islamismus, ob Autoritarismus, Rechtsradikalismus und reaktionärer Populismus bis hin zu unverhohlenem Rechtsextremismus: Die Ursachen dieser nur auf den ersten, oberflächlichen Blick so unterschiedlichen, tatsächlich aber zutiefst wesensverwandten Phänomene sind ein „autoritärer Charakter“, sind eine „autoritäre Persönlichkeitsstruktur“. Sie wird gespeist von Gefühlen der Angst und Orientierungslosigkeit, von Verbitterung, Wut und Ohnmacht, dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, nichts zu melden zu haben, zu wenig oder keine Anerkennung zu bekommen. Fehlende Reflexionsfähigkeit, Leichtgläubigkeit und Manipulierbarkeit sind hierbei stets begünstigende Faktoren. Die Ursachen für dergleichen narzisstische Wut und Kränkung liegen in der wirtschaftlichen und sozialen Misere eines aggressiven („neoliberalen“) Kapitalismus und der durch ihn bedingten sozialen Ausschlüsse und Verwerfungen. Sie gründen in einer dramatischen Um- und Neubewertung althergebrachter Gewissheiten im Zuge eines stürmischen Modernisierungsprozesses kultureller, sozialer, wirtschaftlicher („Globalisierung“) und technologischer Art („Digitalisierung“, „Industrie 4.0“ usw.) Sie führen zu sozialen und kulturellen Ent-Sicherungen, speisen Statuskonkurrenz und Abstiegsängste, nähren frustrierende Ohnmachtserfahrungen, führen zu Diskrepanzen zwischen Haben-wollen (auch durch die Dauermanipulation und „Bewusstseinsbewirtschaftung“ seitens einer perfekt geölten und hochtourig laufenden „Bedürfnisindustrie“) und Sichleisten-können (wegen der zunehmend ungleicheren Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Wohlstands und der oft prekären Erwerbs- und Lebensverhältnisse). Mit Blick auf die Sozialstruktur etwa der Wählerschaft eines Donald Trump oder anderer einschlägiger Populisten muss indes hervorgehoben werden, dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um klassische Modernisierungsverlierer, sozial deklassierte Milieus oder auch nur überwiegend um Geringverdiener handelt. Vielmehr scheint es eine (sozio)kulturelle Kränkung und Überforderungserfahrung, ein starkes Gefühl fehlender Anerkennung der eigenen Person und Gruppe zu sein, aus der sich diese Wut speist. Neben sozialen und ökonomischen Motiven spielen hier auch und insbesondere Fragen der Identität und Kultur eine wesentliche Rolle.1
Es sind nicht zuletzt auch die wie ein Echoraum andauernder Bestätigung und entsprechender Verstärkung eigener Überzeugungen wirkenden Kommunikations- und Informationsblasen („Filter bubbles“, „Echokammern“) der sozialen Netzwerke, die vernünftige, auf den Austausch von Sachargumenten und Verständigung hin ausgerichtete Diskurse tendenziell sabotieren. Zumal, wenn das Kriterium kommunikativer Vernunft in Zeiten von „fake news“ unter die Räder