Der Fisch in der Heizung. Gerhard Moser
auf. Nach einem fragenden Blick zum Kreuz über seinem Bett holte er eine braune Geldbörse hervor. Wollte er mir Geld geben, damit ich Blumen fürs Grab kaufte? Ich spürte eine extreme Nervosität, wie sie nur selten bei ihm zu beobachten war. Er kämpfte mit sich, unsicher, ob er auch das Richtige tat. Er erzählte in abgehackten Worten, dass Herr Heim ihm vor der Einweisung ins Krankenhaus diese Geldbörse zur Aufbewahrung anvertraut habe. Da Herr Heim jetzt aber nicht wiederkäme, wisse er nicht, was er damit anfangen solle. Ich bedankte mich bei Herrn Keller und brachte den Geldbeutel zur Verwaltung. Außer dem vermissten Ausweis fanden sich in der Börse fast 3.000 DM. Wahllos waren die Scheine in das hintere Fach gestopft worden. Bei nur achtzig Mark Taschengeld im Monat musste Herr Heim lange gespart haben. Wenn wir ihm mal frisches Obst, einen Saft oder neuen Badezusatz kaufen wollten, jammerte Herr Heim immer nur, er habe kein Geld.
Jetzt war er tot.
Eines weiß ich sicher: Mein sauer verdientes Geld werde ich frühzeitig ausgeben!
Hypnose wird dich heilen
Ungläubig schauten wir uns an. Sollte das ein Witz sein, oder hatte Frau Steins Hausarzt seine Äußerung ernst gemeint? Frau Stein war jetzt 68 Jahre alt und lag seit fast zehn Jahren fest im Bett. Als damals ihr Mann starb, hatte sie sich einfach hingelegt und war seither nicht mehr zum Aufstehen zu bewegen. Ihre Beinmuskeln waren so degeneriert, dass sie nur noch als schlaffes Gewebe unter der Haut spürbar waren. Irgendwann in den letzten Jahren kam noch ein Schlaganfall dazu. Daheim war Frau Stein rührend von ihrer Schwester umsorgt und gepflegt worden. Als diese vor drei Jahren ganz überraschend verstarb, musste Frau Stein zu uns ins Heim umziehen.
Soeben hatte uns ihr behandelnder Arzt mitgeteilt, dass – nach seiner festen Überzeugung – Frau Stein ihre Krankheit nur vortäusche. Er wolle sie in der nächsten Woche bei der Visite in Hypnose versetzen und dadurch den Beweis erbringen, dass sie laufen könne. Nur die hysterische Haltung der Patientin zwinge sie, im Bett zu bleiben. Wir fassten seine Meinung als Witz auf, denn in den letzten Jahren war alles versucht worden: Aktive und passive Krankengymnastik, Massagen, Bäder und… und… und. All das hatte nicht die kleinste Besserung bewirkt. Der Knalltüte von Arzt war es jedoch bitterer Ernst mit seinem Vorhaben. Da ich an diesem Tag Dienst hatte, erwartete ich voll Spannung diese, im ganzen Haus viel diskutierte „Wunderhypnose“.
Gemeinsam mit dem Arzt und der Stationsschwester betrat ich das Zimmer. „Guten Tag, Frau Stein“, begrüßte Dr. Linzmeier die Patientin. Seine Stimme hatte einen siegessicheren und stolzen Unterton. Er musste sich wie ein Erfinder fühlen, der der Welt gleich eine Superentdeckung zu schenken gedachte.
„Wie ich mit Ihnen bei meinem letzten Besuch besprochen habe, werde ich Sie heute in Hypnose versetzen und Sie können dann wieder laufen.“ Wäre ich an Frau Steins Stelle gewesen, ich hätte den Doc aus dem Zimmer gewiesen. Eine ähnliche Reaktion kam auch prompt.
„Was soll diese dumme Hypnose bringen? Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass ich nicht damit einverstanden bin. Seit zehn Jahren liege ich jetzt im Bett, und da werde ich auch bleiben. Sie können tun, was Sie wollen, nur lassen Sie mir meine Ruhe!“
Es ging einige Zeit hin und her. Dr. Linzmeier hielt die Hypnose für unerlässlich, Frau Stein versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Schließlich beharrte der Arzt darauf, mit der Sitzung endlich beginnen zu können, da seine Zeit kostbar war. Frau Stein sah mich kläglich an.
„Lassen Sie es doch einfach auf sich zukommen. Es wird schon nicht viel passieren.“ Aufmunternd lächelte ich sie an. Sie nickte zögernd. Was dann jedoch folgte, versetzte mich in Gedanken ins tiefste Afrika, erinnert mich an die Zeremonien eines Medizinmannes im Busch. Es fehlte nur noch, dass Dr. Linzmeier einen Tanz um das Bett herum vollführt hätte. Mit beschwörenden Gesten sprach er auf Frau Stein ein.
„Sie werden müde … Sie werden meine Worte jetzt ganz genau befolgen … Heben Sie Ihren Oberkörper … Schieben Sie Ihre Beine über den Rand des Bettes und setzen Sie sich auf die Kante…“ Ich lächelte still vor mich hin, denn diese Übungen führten wir täglich mit Frau Stein durch, auch ohne Hypnose.
„Stellen Sie sich jetzt auf Ihre Beine“, suggerierte der Arzt leise weiter. Tatsächlich rutschte Frau Stein über die Bettkante und stellte sich langsam und behutsam auf ihre Beine. Zwar stand sie unsicher und ans Bett angelehnt, aber sie stand!
„Kommen Sie langsam drei Schritte auf mich zu“, flüsterte Dr. Linzmeier seinen nächsten Befehl. Sein Gesicht strahlte dabei siegessicher. Wir warteten voll Spannung, was als nächstes passieren würde. Langsam hob Frau Stein ihren rechten Fuß…
Ein lauter Schrei entrann sich ihrer Kehle. Hätten wir nicht schnell zugepackt, Frau Stein wäre voll aufs Gesicht gefallen. Der Doktor stand nur perplex da und blickte ungläubig auf die Patientin. Er sah wie ein kleines Kind aus, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Wort- und Grußlos eilte er aus dem Zimmer. Wir legten Frau Stein zurück in ihr Bett und lagerten sie bequem.
„Veranlassen Sie bitte umgehend bei der Heimleitung, dass ich einen anderen Arzt bekomme. Diesen Viehdoktor will ich nie wieder bei mir sehen!“ Wir konnten sie nur zu gut verstehen.
„Was haben sie eigentlich während der Hypnose gefühlt?“, fragte ich neugierig.
„Hypnose? Ich war in keiner Hypnose! Es blieb mir doch nichts anderes übrig, als diesen dämlichen Befehlen zu folgen. Als ich aber dann gehen sollte, bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Und als ich im Bein Krämpfe bekam, konnte ich vor Schmerz nur noch schreien. Da war mir dann eigentlich alles egal. Dieser Rossdoktor hätte mich bestimmt einfach hinfallen lassen. Danke, dass Sie mich aufgefangen haben.“
Ich streichelte ihr die Wange und versprach, später nochmals zu ihr ins Zimmer zu kommen.
Dr. Linzmeier saß wartend im Dienstzimmer. Sein Gesicht drückte aus, was er auch sofort in Worte fasste: „Ich verstehe nicht, was da schiefgelaufen ist. Ich war mir sicher, dass die Hypnose Frau Stein aus ihrer Reserve locken würde und ich sie auf diesem Wege heilen könnte. Ich denke, sie war einfach noch nicht so weit.“ Ohne Umschweife fügte er hinzu: „Passen Sie auf, ich mache Ihnen ein Angebot: Sie rauchen doch beide. Wenn jeder mir fünfzig Mark bezahlt, werde ich Sie durch Hypnose von dieser Sucht befreien. So haben sie den Beweis, dass Hypnose tatsächlich heilt.“ Wir grinsten uns an. Glaubte er wirklich, dass wir auf dieses Angebot eingingen, nachdem wir heute seine Demonstration miterlebt hatten? Eine Antwort darauf gab er sich selbst, indem er mit einem trockenen „Auf Wiedersehen“ das Dienstzimmer verließ, ohne den sonst üblichen Händedruck.
Unsere Kollegen lachten herzhaft, als wir von der Sitzung und dem anschließenden Angebot an uns erzählten.
Vielleicht, wenn Frau Stein gewollt und ausreichend geglaubt hätte, wäre die Hypnose für sie wirklich eine Hilfe gewesen. Sie fühlte sich jedoch im Bett am wohlsten und wollte da auch bleiben. Wer gibt uns dann das Recht, ihr etwas anderes einreden zu wollen?
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