Altern wird heilbar. Nina Ruge

Altern wird heilbar - Nina Ruge


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      Außerhalb der weitgehend geschützten Lebensräume des Menschen schafft es kaum eine Art, überhaupt in die Nähe der genetisch programmierten maximalen Lebensspanne zu gelangen. So gut wie alle sterben weit vorher den Katastrophentod. Das hört sich fürchterlich an, ist aber in der freien Wildbahn völlig normal. Fressfeinde, Unfälle, Krankheiten. Meist kommt der Nachwuchs noch nicht mal ins fortpflanzungsfähige Alter. Wieso dann spezielle Mechanismen der Alterung entwickeln? Das braucht es doch gar nicht. Deshalb lässt die Natur – genauer gesagt, die Evolution – einfach zu, dass die Reparaturmechanismen der Gene nur auf eine bestimmte Zahl von Reparaturvorgängen ausgelegt sind. Mit den Jahren häufen sich dann die schädlichen Mutationen an, weil die Reparatursysteme nicht nachkommen. In der Wildbahn wird ein so beeinträchtigtes Tier – dessen Nieren vielleicht nicht mehr richtig wollen – dann sowieso vom Feind vernichtet. Diese stichhaltige Abbaustrategie in Eigenregie trägt den attraktiven Namen »Mutations-Akkumulations-Theorie«.

      Sie wird ergänzt durch die sogenannte »antagonistische Pleiotropie« (1957 von GEORGE C. WILLIAMS entwickelt). Darunter versteht man einen Mechanismus der Selbstzerstörung, der eine gewisse Tragik aufweist: Nehmen wir das Beispiel des menschlichen Testosterons oder Östrogens. Mutationen, die zu einer höheren Produktion dieser Hormone führen, machen ja erst einmal richtig etwas her: Potentere Männer, kurvigere Frauen, um es platt zu formulieren. Im Evolutionsjargon gesprochen bringt das »Fortpflanzungsvorteile«. Tragischerweise können erhöhte Hormonspiegel im Alter allerdings höchst schädlich sein. Prostatakrebs oder Brustkrebs können die Folge sein. Pleiotrope Gene sind also Gene, die in der Fortpflanzungsphase Vorteile bieten, nach dieser Phase sich aber äußerst ungut auswirken können. Da es in der Evolution aber nur auf gelungene Fortpflanzung ankommt und nicht auf gesundes Altern, sind pleiotrope Gene (nicht nur beim Menschen) evolutionär gesehen förderlich – und tödlich. So werden sie im Erbgut locker mitgeführt. Oder mit anderen Worten: Was junge Lebewesen sich optimal fortpflanzen lässt, kostet sie viele Jahre später vielleicht das Leben.

      Evolutionstheorie – die Zweite

      Also: Die klassische Evolutionstheorie des Alterns kann vieles erklären, aber eine Frage bleibt offen: Weshalb gibt es so viele Arten, einschließlich die menschliche, bei denen sich die Natur den Luxus leistet, sie auch dann noch gesund weiterleben zu lassen, wenn sie schon längst unfruchtbar geworden sind?

      Ein amerikanischer Forscher wartet hier mit der »Großmutter-Theorie« auf und zeigt, dass die Fixierung auf die Fortpflanzungsphase allein eindeutig zu kurz greift. Viele Lebewesen investieren nämlich nicht nur in die Geburt ihrer Kinder, sondern auch in deren Aufzucht. Und genau hier kommen nach RONALD D. LEE von der University of California, Berkeley, die älteren Generationen zurück ins evolutionäre Spiel: Je intensiver die Senioren an der Aufzucht von Jungtieren beteiligt sind, desto eher wird deren Lebensspanne über das reine Fortpflanzungsalter hinausreichen.

      Und das muss nicht einmal die eigenen Kinder betreffen. Von den bekanntesten Delfinen, den Großen Tümmlern, weiß man etwa, dass die Großmütter ihre Enkel nicht nur beaufsichtigen und beschützen, sondern sogar säugen. Und aktuelle anthropologische Studien weisen zum Beispiel darauf hin, dass in bestimmten afrikanischen Pygmäen-Gesellschaften durchschnittlich elf – vor allem ältere – Personen den Eltern bei der Kindererziehung zur Hand gehen.

      So weit, so knapp die Evolutionstheorien des Alterns. Sie lassen uns sozusagen aus der Perspektive der Jahrtausende das Prinzip des Werdens und Vergehens nachvollziehen und sind nach wie vor relevant. Oder um mit HERMANN HESSEs Urmutter Gaia zu sprechen: »Ihr spielender Finger schreibt in die flüchtige Luft unsere Namen.« Das Prinzip verstehen wir ja. Nur das Prinzip des Werdens und Vergehens bringt die unfassbare Vielfalt der Natur hervor – und bringt sie weiter. Das lehrt uns Demut, hilft uns aber noch nicht, die Details des Selbstzerstörungsprogramms zu begreifen, das »Altern« heißt.

      Von den Schadenstheorien

      Fragt man allerdings nicht nach den evolutionären (mit der Frage »Wozu?«), sondern nach den genetischen und physiologischen Ursachen des Alterns (mit der Frage »Wie?«), dann lauten die Antworten freilich ganz anders. Hier möchten die sogenannten »Schadenstheorien« Abhilfe schaffen. Sie erklären den Alterungsprozess gewissermaßen als sich selbst aufbauende Müllhalde: Mit den Jahren sammeln sich mehr und mehr schädliche Stoffwechselprodukte in unseren Zellen, Geweben und Organen an – und nicht nur das. Zugleich wimmelt es in uns nur so von Abnutzungs- und Zerstörungsprozessen. Wir sagten ja eingangs: Sie müssen stark sein beim Lesen dieses Kapitels …

      »Abnutzung« und »Verschleiß« als Ursache des Alterns anzunehmen, ist natürlich naheliegend und hat MAX RUBNER schon 1908 zu einer wegweisenden Überlegung geführt: Je schneller der Puls, je höher also der Stoffwechsel eines Organismus läuft, desto kürzer die Lebenserwartung. Heißt: Wer »an zwei Enden gleichzeitig brennt«, stirbt früher. Dazu kam die Beobachtung, dass Taufliegen deutlich länger lebten, wenn die Umgebungstemperatur gesenkt wurde und damit der Stoffwechsel langsamer lief. Ähnliches war zu beobachten, wenn Organismen auf strenge Diät gesetzt wurden. Der Stoffwechsel fährt runter – die Lebensspanne steigt.

      Die Lebensrhythmus-Theorie

      Aus diesen Erkenntnissen entwickelte der US-Altersforscher RAYMON PEARL die »Rate-of-Living-Theorie«. Die »Lebensrhythmus-Theorie des Alterns« sah also den Organismus sozusagen als ein Behältnis voller Zellbestandteile etc. an – und je schneller der Stoffwechsel liefe, desto schneller würden diese Zellbestandteile beschädigt oder zerstört. Er ging sogar so weit zu behaupten, dass ein Individuum nur eine streng limitierte Zahl von Herzschlägen zur Verfügung hätte. Seien diese »verbraucht«, wäre Schluss. So naiv das zunächst klingen mag, es scheint etwas dran zu sein. Je schneller der Stoffwechsel, desto schneller der Alterungsprozess. Die bekannte »Maus-Elefanten-Kurve« von MAX KLEIBER (1932) veranschaulicht das wunderbar: Große, schwere Organismen leben länger. Ein Elefant lässt die Maus weit hinter sich. Aber: So angesagt die »Lebensrhythmus-Theorie des Alterns« über viele Jahre hinweg war, so wenig war sie in der Lage zu erklären, weshalb eigentlich Sportler oft deutlich länger leben als Couchpotatoes, obwohl sie ja eine deutlich höhere Stoffwechselrate haben. Wieso sterben große Hunderassen viel früher als kleine? Fragen über Fragen. Diese Alterstheorie muss nicht falsch sein, sie greift aber offensichtlich deutlich zu kurz.

      Die Theorie der freien Radikale

      Das war die Chance der »Theorie der freien Radikale«, die bis heute en vogue und für die Hersteller von Antioxidantien sehr einträglich ist. Und doch ist die Wirksamkeit der Präparate auf den Alterungsprozess bis heute nicht nachgewiesen.

      Ich (Dominik) habe die aktuelle Forschungslage zu diesem Thema sondiert und komme zu einem überraschenden Schluss. Die aggressiven freien Radikale führen – so die Theorie – zu Zellschäden und einem beschleunigten Alterungsprozess. Mit ihrer Freisetzung schädigen die Radikale für die Funktion der Zelle wichtige Moleküle, wie die DNA, die RNA und eine Vielzahl von Proteinen und Lipiden. Die Gabe von Antioxidantien führt bei einigen Spezies zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Überlebenszeit, wenn diese Substanzen schon sehr frühzeitig verabreicht werden. Die maximale Lebensdauer konnte dagegen nicht erhöht werden. Die jüngere Forschung lässt immer mehr Zweifel an der Freien-Radikale-Theorie entstehen. Zusätzlich zu MICHAEL RISTOW, der Stress durch freie Radikale bis zu einem gewissen Maß im Sinne eines »Impfungseffekts« als positiv bewertet (siehe weiter unten), gibt es sogar Forscher, die freie Radikale als gänzlich ungefährlich einstufen. Eine prominente Stimme dazu kommt von einer Gruppe Wissenschaftler um ANTHONY SEGAL vom University College London. Im führenden Wissenschaftsjournal »Nature« berichteten sie, dass die so übel beleumundeten freien Radikalen lediglich Nebenprodukte einer recht komplexen Reaktionskette seien. Die britischen Forscher konnten eindeutig zeigen, dass freie Radikale auf keinen Fall jene giftigen Partikel sind, für die sie gehalten wurden, und betonen, dass die grundlegende Theorie zur Toxizität der Sauerstoffradikale fehlerhaft sei. Viele Patienten verwenden möglicherweise teure antioxidative Medikamente, die auf völlig falschen Theorien basieren. Aus diesen Erkenntnissen kann abgeleitet werden, dass alle Theorien,


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