Arkadien und Cornetti. Barbara Horvatits-Ebner
Übel fällt mir noch die Geschichte einer Frau ein, die erst kürzlich in einer Facebookgruppe für alleinreisende Frauen von einem gewaltsamen Übergriff durch einen Hostelmitbewohner berichtete. Danke liebes Hirn, danke für nichts!
Ich lege das Handy weg, atme tief durch und blicke auf das Boot. Es schaukelt noch immer. Es ist aber gut am Steg festgebunden. Die Sonne scheint strahlend und warm vom Himmel, das Wasser glitzert und plätschert leise, der Wind weht den Schnee von der Spitze des Monte Baldo wie Puderzucker hinunter. Ich erinnere mich an die abenteuerliche Wanderung, die ich fast zweieinhalb Jahre zuvor mit Harry dort hinauf unternommen habe. Nachdem unser erster Versuch vor vielen Jahren von Malcesine aus durch ein Gewitter kolportiert wurde und auch der zweite ein Jahr danach von San Zeno aus nicht klappte, schafften wir es beim dritten Mal, indem wir von der Hinterseite dieses mächtigen Gebirges hinauf stiegen. Die Geschichte, wie wir uns dann verliefen, uns über Felsen und durch Latschenkiefern quälten, nur um festzustellen, dass wir nicht am Gipfel, sondern dreihundert Meter entfernt stehen, wäre wohl ein eigenes Buch wert. Ich lächle und schicke dem Cima Valdritta, dem höchsten Gipfel des 2.218 Meter hohen Berges, schöne Grüße hinauf und drehe mich wieder um zum See.
Ich habe also schon weit größere Strapazen hinter mich gebracht als ein paar Nächte in einem gemischten Hostel. Das blaue Boot vor mir kann auch kein Wind erschüttern, weil es fest angebunden ist und mit dem Motor hinten oben auch sicher stark, wenn es darauf ankommt. „Babsi, sei das Boot da“, sage ich mir. Also entschließe ich mich, wieder einmal über meinen Schatten zu springen, und beginne, die Hostels bezüglich Bewertungen und Lage zu vergleichen. Die Unterkunftsauswahl vertage ich aber auf morgen, für heute habe ich mir genug Stress gemacht. Ich sitze noch ein wenig am See, genieße seine sedierende Wirkung auf mich, nehme Kontakt mit zu Hause auf und mache mich dann schön langsam auf den Weg ins B&B.
Dort erst fällt mir auf, wie erschöpft ich eigentlich bin. Die Wanderung gestern und der Ärger und Stress des heutigen Tages zehren ordentlich. Ich lasse mich schwer auf das Bett fallen, starre einfach nur doof auf das Handy und mache erst mal gar nichts. Natürlich überkommt mich sofort das schlechte Gewissen. Jetzt bin ich in jenem Städtchen, in dem Goethe fast verhaftet worden wäre, als er in der Burg zeichnete, und liege nun faul im Zimmer herum. Klar, ich kenne Malcesine schon von vorherigen Aufenthalten und weiß, dass es eigentlich nichts Neues mehr für mich zu entdecken gibt, aber ich mag den Ort doch gerne. Wie kann ich jetzt nur so uninteressiert sein?
Ich krame den Laptop hervor und beginne, Fotos zu bearbeiten und meinen Blogartikel über die gestrige Wanderung zu schreiben, damit ich wenigstens etwas Produktives zustande bringe. Als es immer später und draußen bereits dunkel wird, will ich mir nach all den Strapazen, die ich mir selbst mit meinen Aktionen und Gedanken heute zu verdanken habe, ein richtig leckeres Abendessen gönnen. Normalerweise muss man ja gerade in typischen Ferienregionen, die im Sommer von deutschen und österreichischen Urlaubern überschwemmt werden, sehr vorsichtig damit sein, wohin man essen geht. Die Auswahl an „Touristenrestaurants“ am Gardasee ist groß und was man dort bekommt, qualitativ nicht so gut, dafür aber teuer. Aber Ende März, wenn hier noch lange nicht Saison ist, haben viele dieser Lokale noch geschlossen. Die Trattorien, in denen die Einheimischen auch zu Abend essen, sind aber geöffnet. Ich finde also eine nette kleine Osteria mit einer überschaubaren Speisekarte – für mich DAS Zeichen von guter Qualität –, wo die Mamma noch in der Küche steht und die Familie mithilft. Ausgezeichnete Pasta, ein Gläschen Wein – mehr brauche ich zum Glücklichsein gerade nicht. So schließe ich mit diesem Tag mithilfe der italienischen Küche doch noch meinen Frieden.
Am nächsten Tag kann ich es kaum glauben: Ich muss meinen Rucksack nach dem Aufstehen nicht packen! Ich finde großen Gefallen daran, zwei Nächte an einem Ort zu bleiben, denn so habe ich nicht nur wunderbar Zeit für alles, was ich machen will, sondern auch mal Pause vom schweren Schleppen.
Ich spaziere zur berühmten Burg von Malcesine. Obwohl ich sie schon einmal besichtigt habe und der Eintritt mit acht Euro nicht günstig ist, will ich nochmal hinein. Ich weiß nämlich, was – oder besser gesagt wer – mich darin erwartet! Die Casa di Goethe, also das Goethe-Museum in Rom, richtete in der Burg eine kleine Ausstellung ein. Vor deren Eingang wacht eine Büste des deutschen Dichters. Wie schon vier Jahre zuvor schieße ich ein Foto mit Goethes Abbild und freue mich wie irre, dass es diesmal auf so einer besonderen Reise entsteht. Ich gehe durch den kleinen Ausstellungsraum, in dem sich auch gerade ein deutsches Pärchen befindet. Sie sind ziemlich erstaunt darüber, dass Goethe hier war. Ihrem Ausruf „Boah, der hat ja fast ganz Italien bereist!“ kann ich nur ein stilles Lächeln hinzufügen. Ja, das hat er, und ich reise ihm nach, denke ich für mich und bin wieder einmal richtig froh, diesen Traum gerade in die Realität umzusetzen.
Auch das kleine Museum über den Gardasee sehe ich mir zum wiederholten Male an und stelle erschreckenderweise fest, dass ich so viel schon wieder vergessen habe. Nach einigen Stufen hoch zum zweiten Stockwerk der Burg gelange ich zu einer weiteren kleinen Ausstellung über die Schifffahrt am See. Hier erlebe ich, was es bedeutet, geschichtliche Informationen in seine Erfahrungen zu integrieren: Die Galeere, die auf jenem Weg hinabtransportiert wurde, den ich vor zwei Tagen noch in Torbole gegangen bin und die später von den Lombarden im See versenkt wurde, konnte tatsächlich lokalisiert und entdeckt werden. Natürlich ist nicht mehr viel vom Holzschiff übrig, doch einige Teile haben sich im Schlamm erhalten und sind nun hier in der Burg ausgestellt.
Abschließend erklimme ich noch den Turm der Burg, von dem ich weiß, dass er eine sensationelle Aussicht bietet. Ich schieße Unmengen an Fotos von Malcesine, das sich so hübsch zwischen dem Bergrücken des Monte Baldo und den Gardasee zwängt und mit seinen alten Dächern für Fotos sorgt, die auch vor achtzig Jahren entstehen hätten können. Mein Blick schweift mehrmals von Nord nach Süd, von Ost nach West. Ich versuche, die kleinen Orte am Berg vis-à-vis auszumachen und sehe den wenigen Schiffchen, die fahren, auf ihrem Weg über den See zu. Verlassen von jeglichem Zeitgefühl stehe ich hier oben und hätte mich wohl auch noch lange nicht hinunterbegeben, wenn ich nicht wüsste, dass die große Glocke neben mir irgendwann zu bimmeln beginnt. Ich sehe auf die Uhr und stelle fest, dass es tatsächlich wenige Minuten vor der vollen Stunde ist. Das laute Schlagen der Glocke muss ich mir nicht unbedingt geben und ich steige die Stufen wieder hinunter.
Nach einem kleinen Spaziergang in der Stadt – für mich zum gefühlt zehnten Mal – bin ich plötzlich irgendwie planlos. Jetzt habe ich einen ganzen Tag Zeit und weiß nichts damit anzufangen. Ich nehme am alten Hafen Platz und lese zwei Reiseberichte über die Gegend rund um Malcesine. Das allermeiste weiß ich bereits, doch dann springt mir eine Information ins Auge, die wie für mich geschaffen ist: Ganz in der Nähe soll sich der Aril befinden, der als der kürzeste Fluss der Welt gilt. Orte, die irgendeine geografische Besonderheit aufweisen, ziehen mich magisch an. Ich stehe total darauf, mich am südlichsten Punkt von Apulien, südwestlichsten Punkt Kontinentaleuropas, in der kleinsten Stadt Österreichs oder am höchsten Berg der Steiermark zu befinden. Superlative machen mich glücklich. Also werde ich dem Aril wohl einen Besuch abstatten.
In meinem Übereifer gehe ich erst einmal vierzig Minuten in die falsche Richtung, bis ich realisiere, dass ich nicht in Richtung Norden, sondern nach Süden marschieren muss. Das mit dem Haushalten der Energiereserven habe ich anscheinend immer noch nicht verinnerlicht. Doch ich will zum Fluss, also drehe ich um, gehe zurück ins Zentrum und dann immer weiter am See entlang südwärts. Ich komme an der Stelle vorbei, an der Harry und ich einmal eine Badepause einlegten. Ich bekomme Gänsehaut beim Gedanken daran, jetzt in den See zu springen. Ende März blühen hier zwar schon die Blumen und wenn die Sonne scheint, lässt es sich durchaus auch ohne Jacke aushalten, aber für einen Sprung ins Wasser müsste man entweder extrem abgehärtet oder verrückt sein. Zur Bestätigung meiner Hypothese über die geringe Wassertemperatur halte ich meine Hand in den See und finde, dass ich absolut recht habe.
Nach etwa einer Stunde Fußweg, etlichen Buchten und den Blick auf zwei winzige Inseln erreiche ich Cassone. In diesem Örtchen, das zur Gemeinde Malcesine gehört, soll sich also der kürzeste Fluss der Welt befinden. Tatsächlich stehe ich plötzlich auf einer von vier Brücken, die den wirklich kurzen, aber stark strömenden 175 Meter langen Fluss überspannen. Natürlich bin ich neugierig, wo er denn das Licht der Welt erblickt, gehe an ihm entlang, überquerte die Gardesana – die Straße,