Mari reitet wie der Wind. Federica de Cesco
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Federica de Cesco
Mari reitet wie der Wind
Federica de Cesco war von ihrer frühesten Jugend an immer mit Pferden zusammen und hat diese Liebe zu den edlen Tieren in viele ihrer Romane einfließen lassen. Ein weiteres wichtiges Hobby ist für sie das Reisen. Zahlreiche Länder auf verschiedenen Kontinenten hat sie bereits besucht und oft mehrere Monate in der Fremde verbracht, um verschiedene Kulturen kennenzulernen. Auch davon erzählen ihre Geschichten. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für ihr schriftstellerisches Schaffen wurde Federica de Cesco mehrfach ausgezeichnet.
Veröffentlicht als E-Book 2010
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2009
Erstmals erschienen bei Arena 1997
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Art Wolfe © gettyimages und Tim Graham © gettyimages
ISBN 978-3-401-80116-2
www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de
1. Kapitel
Unermüdlich lief Mari über die staubige Landstraße. Schon seit fast einer Stunde war sie unterwegs – unterwegs zu Paloma, ihrem Pferd. Sie war verzweifelt gewesen vor Sehnsucht, aber nun ging es ihr wieder besser. Zu beiden Seiten der Straße dehnte sich der rissige Boden, glitzernd von Salzkristallen. Möwen kreisten in der blaugelben Luft. Über einem Teich schimmerten Luftspiegelungen, immer wieder brauste der Wind hoch und legte sich wieder. Die Sonne glühte; das Weiß war so blendend, dass Mari halb die Augen schloss. Sie lief gleichmäßig und lautlos, mit lockeren Bewegungen und niemals zu schnell. Auf diese Weise kam sie gut voran und schaffte mühelos größere Strecken, ohne außer Atem zu kommen. Ihre Schultasche hatte sie unter einem Busch versteckt, dort, wo der Damm von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer endete und Tang in schwärzlichen Mustern auf dem Sand trocknete. Die Gegend wurde allmählich grüner. Schilf raschelte im heißen Wind und über den Sümpfen lag Sonnenglanz. Im Schatten einiger Schirmpinien weideten braune Schafe, bewacht von einem großen Schäferhund und seinem Herrn. Als Mari vorbeilief, reckte der Hund friedlich die Ohren. Auf seinen Stab gestützt, hob Gabriel, der Hirte, grüßend die Hand. Mari lächelte ihm zu, lief aber ohne Halt weiter. Gabriel sah dem Mädchen nach. Sie trug Jeans mit Rissen an den Knien, ein verwaschenes rotes T-Shirt und eine Kette bunter Holzperlen, die bei jedem Schritt leise aneinanderschlugen. Sie hatte ein ovales zimtfarbenes Gesicht; ihre braunen Locken wehten im Wind. Gabriel nickte nachdenklich vor sich hin. Ein Lächeln, halb wehmütig, halb zärtlich, wanderte über sein runzeliges Gesicht. »Siehst du dieses Mädchen, Grincho?«, sagte er zu seinem Hund. »Sie will zu Paloma, ihrer weißen Stute. Was für eine Schande, die beiden zu trennen! Dabei hat sie der alte Emilio – Friede seiner Seele! – mit der Schnur der Ratte verbunden. Grincho, mein guter Hund, weißt du, was das bedeutet? Die Schnur der Ratte wird aus drei Pferdehaaren geflochten. Wie man es richtig macht, wissen nur noch die Großmütter. Emilios Schnur war über hundert Jahre alt. Verbindet man zwei Menschen mit dieser Schnur, werden sie wie Brüder und Schwestern sein. Das gilt auch für Mensch und Tier. Ach, Grincho, mein Lieber, du kennst es ja selbst. Als du ein kleiner Welpe warst, habe ich die Schnur um meine Hand und deine Pfote gewickelt. Jetzt sind wir Brüder. Und Mari und Paloma, siehst du, sie sind Schwestern. Marcel Aumale hat sie auseinandergerissen. Dieser Kerl stinkt nach Geld wie meine Füße nach schmutzigen Socken. Aber das wird ihm kein Glück bringen.« Grincho war daran gewöhnt, dass Gabriel mit ihm sprach. Er legte die Schnauze auf seine Pfoten und blinzelte, als wollte er damit seine Zustimmung geben. Die Sache mit Paloma war vor drei Wochen geschehen. Onkel Emilio hatte das Dach seiner Cabane flicken wollen – er wohnte schon lange in solch einem hüttenartigen, weiß gekalkten Haus mit einem Binsendach, wie es sie in dieser Gegend oft gab. Onkel Emilio, der schon jahrelang Witwer war, war von der Leiter gefallen, hatte sich das Genick gebrochen und war sofort tot gewesen. Nach der Beerdigung hatte sich herausgestellt, dass er Marcel Aumale Geld schuldete. Dieser beschlagnahmte das Haus und das kleine Stück Land. Auch Emilios fünf Schafe, die Stute Lia und das Fohlen Paloma gingen in seinen Besitz über. Mari hatte vor Schmerz laut geschluchzt. »Paloma gehört mir! Onkel Emilio hat mir das Pferd geschenkt!« »Sei still«, hatte die Mutter traurig gesagt. »Aumale hat ein Recht auf das Fohlen. Emilio hat Geld von ihm genommen und es nicht zurückgezahlt.« Als Mari beim Laufen an Marcel Aumale dachte, wurde ihr heiß. Ihre Wangen brannten vor Verzweiflung und Wut. Wie sie diesen Menschen verabscheute! Marcel Aumale stammte aus dem Norden, war Immobilienhändler von Beruf. Er baute Eigentumswohnungen und Hotels. Mit »Spazierritten« auf Camargue-Pferden lockte er die Kundschaft an. Angeführt von einem Reitlehrer, der als Gardian verkleidet war, also als Viehhüter, ritten die Touristen durch das Naturschutzgebiet, ohne Rücksicht auf die empfindliche Tier-und Vogelwelt. Das Bürgermeisteramt hatte die Genehmigung dazu erteilt. Bestechung, flüsterten die Einheimischen. Mari hatte schon immer Mitleid mit den Pferden von Marcel Aumale gehabt. Sie wirkten lustlos und abgestumpft, das Feuer in ihrem Blick war erloschen. Der Gedanke, dass Paloma nun das gleiche Schicksal bevorstand, erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn. Mit unendlicher Freude und Geduld hatte sie das Füllen zugeritten. Unzählige Male hatte Paloma sie abgeworfen, sich wild gegen den Halfter gesträubt. Mari besaß keinen Sattel; sie wollte auch nicht, dass Paloma eine Gebissstange im Maul hatte. Sie sprach in einem beruhigenden, liebevollen Singsang mit dem Tier, bis Paloma endlich stillhielt und Mari sich auf sie schwingen konnte. Der Schimmel duldete nur sie auf seinem Rücken. Er wollte auch nicht, dass andere ihn streichelten, entwich ihnen schnaubend, schlug unwillig aus. Es war bekannt, dass Marcel Aumale und seine Gardians brutal mit den Pferden umgingen. Scheu und eigensinnig, wie sie war, würde Paloma solch rohe Behandlung nicht hinnehmen. Sie würde sich zur Wehr setzen, sich dabei zu Tode toben. Wie kann ich sie nur retten?, dachte Mari verzweifelt. Mari war ein Kind der Boumians, der Nachkommen des »Fahrenden Volkes« in Südfrankreich. Viele von ihnen lebten noch in Wohnwagen, waren aber sesshaft geworden und schickten ihre Kinder zur Schule. Die Frauen bebauten kleine Gärten, halfen bei der Weinlese oder der Ernte. Die Männer waren Korbmacher, Viehhüter oder Zirkusartisten. Auch Mari ging zur Schule, aber das Lernen machte ihr wenig Spaß. Mit zwölf konnte sie gerade genug lesen und schreiben, um einen Brief zu verfassen, der von Fehlern wimmelte. Doch Mari war das egal. »Um zu reiten, brauche ich das nicht.« Mari und ihre kleine Schwester Deborah waren ohne elektrisches Licht und ohne Wasseranschluss groß geworden. Abends wurde der Wohnwagen von einer Petroleumlampe erleuchtet. Lola, Maris Mutter, kochte mit Butangas. Um sich zu waschen, benutzten sie das Wasser aus dem kleinen Bach. Im Winter musste Mari manchmal das Eis mit einem Stein zertrümmern. Maris Vater war ein Franzose, ein waghalsiger, abgebrühter Kerl, der sich oft seltsam benahm. Alain hatte mit seinen Eltern gebrochen, sein Studium aufgegeben und in einem Zirkus mit Pferden gearbeitet, nachdem er Lola kennengelernt hatte. Aber seine Gage war spärlich bemessen gewesen, und als das zweite Kind kam, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Lola und ihre Kinder lebten von der Sozialhilfe, in tiefster Armut. Die Sippe nahm es ihr übel, dass sie einen Gatscho – einen Nichtzigeuner – geheiratet hatte. Mitunter hatte Lola mit Mari über diese Dinge gesprochen, als sei ihre Tochter eine Erwachsene. »Die alten Frauen sind böse auf mich. Und jetzt, wo Alain im Gefängnis sitzt, hilft mir keine.« Maris Vater hatte seine Stelle im Zirkus verloren, sich mit Drogenhändlern angelegt und Schlägereien angezettelt. Einmal waren zwei Polizisten gekommen, hatten Lola verhört und den Wohnwagen nach gestohlener Ware durchsucht. Als sie endlich gegangen waren, hatte der Wohnwagen wie ein Schlachtfeld ausgesehen und Lola hatte leise und verzweifelt geschluchzt. »Siehst du, Mari, dein Vater hat ein gutes Herz, aber er ist jähzornig und unberechenbar. Er wollte schnell zu Geld kommen und hat sich in dunkle Geschäfte eingelassen. Jetzt muss er dafür büßen.« Mari sagte nichts und dachte nur: Er hat es nicht anders verdient. Ein paarmal hatte sie erlebt, wie Alain Lola geschlagen hatte. Sie hatte nicht verstanden, warum sich die Mutter nicht wehrte, sondern bloß weinte und wimmerte. Statt Mitleid mit ihr zu haben, schlug Alain sie dann noch stärker. Das war schrecklich gewesen, aber Mari hatte daraus gelernt. Sie hatte sich vorgenommen, sich so etwas nie gefallen zu lassen. »Wenn ich groß bin, werde ich zurückschlagen. Und wie!« Aber Lola konnte das nicht. Lola war so sanft, so gutmütig. Sie verdiente ein wenig Geld, indem sie nach den Rezepten der Großmutter Salben und Medizin aus Kräutern herstellte