Mari reitet wie der Wind. Federica de Cesco
Insektenstichen, kurierte mit Schwitzbädern tief sitzenden Husten. Sie heilte Hautkrankheiten mit Kleiebädern, Brandwunden mit Lehm, Frostbeulen mit Olivenöl. Besondere Heilmittel linderten Durchfall, senkten das Fieber. Mari und Deborah waren selten krank. Wenn sie einmal Schnupfen oder Fieber hatten, gab ihnen Lola einen Sirup, den sie in einem Tontopf auf offener Flamme anrührte. Nach ein paar Stunden ging es den Kindern wieder gut. Natürlich gab es gegen solche Krankheiten auch Tabletten in der Apotheke. Aber Lolas Medizin war besser. Mari war oft dabei, wenn sie die Heilmittel zubereitete, und stellte eine Menge Fragen. Aber eines Tages hatte Lola zu ihr gesagt: »Diese Dinge sind nichts für dich, Mari. Das weiß ich sicher. Die Sprache der Pflanzen wird Deborah sprechen. Aber tröste dich, du hast eine andere Gabe. Du sprichst die Sprache der Tiere, wie dein Vater.« Mari war wütend geworden. »Ich will nicht wie mein Vater werden!« Über Lolas Gesicht war ein Lächeln gehuscht. »Du hast seine Stärke und Willenskraft, aber nicht seinen Leichtsinn. Du bist der bessere Teil von ihm.« Auch jetzt, beim Laufen, dachte Mari über Lolas Worte nach. Ihre Mutter konnte weder lesen noch schreiben, aber es gab viele Dinge, die sie besser wusste als andere Menschen. Der Wind wehte und ließ das Schilf rauschen. Das war fast so, als ob Mari die Stimme der Mutter hörte. Sie wurde allmählich müde, aber zum Glück lag der größte Teil der Strecke jetzt hinter ihr. Bald näherte sie sich dem Strand. Knorriges Gebüsch bedeckte den Boden mit kargem Schatten, Salz-und Ginstergerüche erfüllten die heiße Luft. Mari lief jetzt an einem kleinen Kanal, einer Roubine, entlang, die das Wasser der Teiche mit dem Meer verband. Sie dachte daran, dass sie nie so weise wie die Mutter werden würde. Und sie wollte auch nicht ins Gefängnis kommen wie der Vater. Sie brauchte Freiheit und frische Luft. Und wenn sie in der Schule saß, kribbelten ihr schon nach ein oder zwei Stunden die Beine. Bisher hatte es immer Paloma gegeben, mit der sie ausreiten konnte, und das hatte Mari glücklich gemacht. Doch jetzt hatte sie Paloma verloren.
2. Kapitel
Das Sonnenlicht funkelte mild, als Mari sich im Windschatten der Dünen niederkauerte. Der Strand lag grau und verlassen da. Mari kannte alle Wege, alle Mulden in den Dünen. Sie konnte mit geschlossenen Augen überall hingehen und brauchte nur mit nackten Füßen den Boden zu berühren, um zu wissen, wo sie war. Nun wartete sie, geduldig und kaum außer Atem im Sand sitzend, die Arme um die Knie geschlungen. Das Salz brannte auf ihren Lidern und Lippen, das Rauschen von Wind und Meer dröhnte ihr in den Ohren. Die Weide befand sich auf der anderen Seite des Kanals. Bei Trockenheit war das Wasser nicht tief und die Pferde taten, was sie wollten: Weil sie die Nähe des Meeres liebten, überquerten sie immer wieder den Kanal und liefen zum Strand. Nach einer Weile holten die Gardians sie ein, trieben sie auf die Weide zurück. Auch diesmal wartete Mari nicht umsonst. Unvermittelt durchbrach ein dumpfes Pochen die Stille. Einen Vogelschwarm aufwirbelnd, sprengte eine Gruppe von Pferden aus dem Buschwerk. Mit fliegender Mähne galoppierten sie über den Strand. Am Ufer verlangsamten sie ihren Schritt, wateten durch die Pfützen oder trabten, ihren Schweif schwingend, im Kreis herum. Einige warfen den Kopf zurück und wieherten; es hörte sich wie ein tiefes Lachen an. Ein Füllen stand am Rand eines Tümpels, der sein Spiegelbild zurückwarf. Maris Herz klopfte wild. Paloma! Sie war nicht gedrungen, wie Camargue-Pferde es oft sind, sondern schlank und hochgewachsen. Ihr Hals war in anmutiger Linie gebogen, ihre Beine erstaunlich feingliedrig. Ihre dichte, lange Mähne fiel weit über die großen, dunkel glänzenden Augen. Der Schweif war so lang, dass er fast den Boden berührte. Und weil das weiße Pferd fast bläulich schimmerte, hatte Mari der Stute den Namen »Paloma« – Taube – gegeben. Das Tier hatte es in sich. Mari gehorchte es zwar wie ein Pony, aber sobald sich ihm ein Fremder näherte, schlugen seine Hufe wie Keulen durch die Luft. Einmal hatte ihm ein Viehhüter die Kandare anlegen wollen. Paloma hatte nach seinem Handgelenk geschnappt, die Pulsader nur um Haaresbreite verfehlt. Auch jetzt hielt Paloma sich abseits; ihr Spiegelbild leuchtete im blauen Tümpel. Es war, als bewegten sich zwei Tiere – eines in der Luft und eines im Wasser – in vollkommenem Gleichklang miteinander. Ein Lächeln flog über Maris finsteres Gesicht. Sie richtete sich vorsichtig auf, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, der wie der Ruf eines Vogels klang. Sofort hob die Stute den Kopf, schüttelte die Mähne, spitzte die Ohren. Mari pfiff ein zweites Mal. Dieser zweite Ton war kurz und deutlich, doch ohne Schärfe. Palomas linker Vorderhuf scharrte im Sand. Dann setzte sie sich in Bewegung, trabte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Leicht und anmutig bewegte sich der Schimmel auf das Mädchen zu. Die Mähne und der Schweif wehten und flatterten in der Luft. Mari vergewisserte sich mit einem Blick, dass kein Viehhüter in der Nähe war, bevor sie durch den lockeren Sand lief. Sie hatte einen Klumpen Salz mitgebracht, den sie Paloma entgegenhielt. Die Stute war jetzt so nahe, dass Mari die Wimpern ihrer dunklen Augen sehen konnte. Als sie das Salz von Maris flacher Hand leckte, fühlten sich ihre Lippen weich wie Samt an. An ihren Nüstern perlten kleine Tropfen. Als Paloma mit dem Salz fertig war, rieb sie ihre Wange an Maris Hand, beschnupperte ihr Haar. Mari legte die Hand auf den Rücken des Tieres, sah, wie das weiße Fell erschauderte. Sie sprach zu dem Schimmel, so leise, dass sie sich selbst kaum hörte.
»Paloma! Du fehlst mir so! Und ich will nicht, dass andere dich reiten. Wenn wir doch irgendwohin gehen könnten, wo uns niemand findet! Aber ich hab kein Geld und ich muss zur Schule...« Paloma schien ihre Traurigkeit zu spüren. Sie beugte den Hals, um mit ihren Nüstern Maris Wange zu berühren. Das Mädchen presste sich enger an das Pferd. Dicke, heiße Tränen füllten ihre Augen. »Wenn wir wirklich wollten. Ja, wenn . . .« Nein, unmöglich! Sie musste sich diese Idee aus dem Kopf schlagen. Mari blinzelte, warf ihr Haar aus der Stirn. Die Versuchung, Paloma zu reiten, nahm zu, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte. Weit und breit war kein Viehhüter in Sicht. In der Nähe lag ein gefällter Baumstamm, vom Salzwasser gebleicht und ausgewaschen. Mari trat auf den Baumstamm, krallte sich in der Mähne des Pferdes fest. Der Schimmel wartete, wie er es immer tat, bis das Mädchen auf seinem Rücken saß. Tiefer, gleichmäßiger Atem hob und senkte Palomas Flanken. Ihr Rücken war breit, federnd und warm. Ruhig und langsam setzte sie sich in Bewegung. Bei jedem Schritt fühlte Mari das mächtige Spiel ihrer Muskeln. Sie lehnte sich weit nach vorn, streichelte Palomas Hals, sprach leise in das wippende Ohr des Pferdes.
»Du möchtest auch gern galoppieren, nicht wahr? Aber wir müssen vorsichtig sein. Du gehörst mir nicht mehr, verstehst du? Du gehörst diesem blöden Kerl. Ich weiß, das ist schwer zu ertragen. Aber es ist nun mal so . . .« Paloma schüttelte den Kopf, drängte vorwärts. Mari biss sich hart auf die Lippen. Nur eine Bewegung und sie würden im Flug dahinstürmen. Wie der Blitz, wie der Sturmwind, wie der Wildbach. Mit einem Mal vergaß Mari jede Vorsicht. Ein Schwindelgefühl erfasste sie, der Boden schien unter ihr wegzugleiten. Sie beugte sich tiefer über die Mähne des Schimmels, stieß dicht an seinem Ohr einen langen, spitzen Schrei aus. Da sprang das Pferd mit einem Satz vorwärts, trug Mari in pfeilschnellem Galopp über den Strand. Welch ein Ritt! Mari erschien er als der schönste ihres Lebens. Sie umklammerte Palomas warme Flanken mit den Beinen, krallte sich an der Mähne fest. Ohne Zaumzeug oder Sattel fing sie jeden Sprung mit einer geschickten Gegenbewegung ab. Mari hatte sich nie überlegt, wie sie das fertigbrachte, es war einfach eine Sache, die sie konnte. Mari dachte nicht mehr daran, vorsichtig zu sein; sie gab sich völlig diesem herrlichen Gefühl hin: Es war, als hätte sie Flügel. Sie warf den Kopf zurück, ließ sich tragen, wohin das Tier wollte. Der Himmel leuchtete türkisblau, sie war ganz von Luft und Licht umgeben. Doch auf einmal mischte sich ein anderes Geräusch in das Trommeln der Hufe. Mari schreckte aus ihrem Wachtraum auf, warf einen Blick über ihren Rücken. Sie sah, dass sich etwas Braunes bewegte. Einen Augenblick zuvor war noch nichts da gewesen, doch jetzt zeichneten sich drei Reiter scharf gegen den Himmel ab. Die Viehhüter hatten das Verschwinden der Pferde entdeckt und ritten schnell zum Strand, um die Tiere einzufangen. Nun hatten sie die Reiterin bemerkt, schwenkten ihre Dreizackgabeln und schrien ihr Worte zu, die der Wind davontrug. Schon kamen sie von den Dünen herabgejagt. Sandwolken stoben auf. Lähmender Schrecken fuhr Mari in die Glieder. Das, was sie machte, war verboten. Die Viehhüter würden sie einfangen, der Polizei übergeben. Womöglich musste sie eine Buße bezahlen. Oder sie kam ins Gefängnis, wie ihr Vater. Was nun? Angst schnürte Mari die Kehle zu. Sie klammerte sich fester an Paloma. Ihre einzige Hoffnung war, so viel Vorsprung zu gewinnen, dass sie von dem Rücken des Pferdes springen und im Unterholz verschwinden konnte, bevor sie eingeholt wurde. Sie legte sich flach über Palomas Mähne. Die Stute sprang schnell und wild. Sie liebte es zu rennen, raste über den