K.L.A.R. - Taschenbuch Dann bleib ich eben sitzen!. Thorsten Steffens
wärst du doch sitzengeblieben!“
Sie sieht mich an. So, als ob ich dazu was sagen soll.
Ich sehe sie ebenfalls an, sage aber nichts. „Oder nicht?“, fragt sie mich. „Wärst du damit versetzt worden?“
Ich schüttle den Kopf.
„Das kann doch nicht wahr sein! Schon wieder? Du bist doch letztes Jahr schon sitzengeblieben! Was soll denn aus dir werden?“
Wir stehen mitten im Flur. Einer der Möbelpacker, der gerade im Wohnzimmer eine Kiste abgestellt hat, ergreift schnell die Flucht und rast an uns vorbei in Richtung Treppenhaus. Ich sehe ganz kurz, wie riesig das Wohnzimmer hier ist.
„Kannst du mir bitte antworten?“
Ich seufze genervt. „Ja, keine Ahnung!
Als ob ich absichtlich sitzengeblieben wäre!“ „Du musst dich einfach mal etwas mehr anstrengen! So schwer kann das doch nicht sein. Hausaufgaben machen, für Tests und Klassenarbeiten lernen. Das sagen wir dir doch schon seit Jahren! Wann geht das denn endlich in deinen Kopf hinein?“
Meine Mutter spielt wieder denselben Text ab, den sie mir immer vorspielt. So, als ob sie einfach nur auf einen Knopf drückt und die Ansage geht von vorne los.
Ich kann inzwischen schon mitsprechen – von wegen mehr anstrengen, mehr Hausaufgaben, mehr lernen, erwachsen werden.
Kati hört auf, in ihren Kisten zu wühlen. Und sie hat aufgehört zu lächeln. Dabei lächelt sie eigentlich fast immer. Außer wenn wir uns streiten. Das mag sie nicht. Aber wer tut das schon?
„Wie soll es denn jetzt weitergehen? Du bist 16 Jahre alt. Wann willst du denn deinen Abschluss machen? Und vor allem, was für einen? Und dann? Hast du dir jetzt endlich einmal Gedanken gemacht, was du nach der Schule beruflich machen möchtest?“
Ich seufze wieder laut. Stimmt, so geht die Ansage weiter: Du bist schon 16, Schulabschluss, Beruf! Bla, bla, bla.
Andauernd fragt sie mich, was ich später einmal machen möchte. Aber ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht! Ich weiß nur, was ich nicht werden möchte – Schüler!
Ich meine, ich kenne einige, die wissen ganz genau, was sie später einmal machen wollen: Touri zum Beispiel will Kfz-Mechatroniker werden und später mal seine eigene Werkstatt haben; oder Lennart, der weiß genau, dass er Abi machen will und danach BWL studiert. So was macht mir eine Scheißangst! Dass die das alle so genau wissen.
„Du bist 16 Jahre alt, Tim. 16!“, betont meine Mutter wieder. „Irgendwann musst du doch mal erwachsen werden!
Verantwortung übernehmen! Einen Plan für deine Zukunft haben. Als ich so alt war wie du, war ich schon in der Ausbildung!“
Meine Tante betritt die Wohnung: „Och nö, ihr streitet euch schon wieder? Keine fünf Minuten kann man euch alleine lassen!“
„Ich mache mir doch nur Sorgen!“, rechtfertigt sich meine Mutter, während meine Tante zu Kati geht und sie in den Arm nimmt.
Mir reicht es!
Ich sehe aus den Augenwinkeln Katis trauriges Gesicht, das sonst nie traurig ist. Trotzdem drehe ich mich um und verlasse die Wohnung. „Wo willst du hin?“, ruft meine Mutter mir nach. Weg! Einfach nur weg.
3. NEUMARKT
Auf der Straße habe ich zwei Jungs gefragt, wie man am schnellsten in die Innenstadt kommt. Zuerst Bus, dann Bahn, dann umsteigen und noch mal Bahn. Bin natürlich gratis gefahren (wenn jemand gekommen wäre, hätte ich mein Schülerticket gezeigt und gesagt, ich dachte, das gilt hier auch).
Mein Magen knurrt, als ich am Neumarkt aussteige. Zum Glück habe ich noch die vier Euro in der Hosentasche, die mir meine Mutter heute Morgen fürs Essen mitgegeben hat. Davon hole ich mir gleich erst mal ein paar Pommes.
Ich schaue mir ein wenig die Geschäfte an, aber meine Gedanken kreisen nur um dieses beschissene Zeugnis. So ein Scheiß aber auch! Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlecht ausfällt. Gut, ich hab mich wirklich nicht so sehr angestrengt, weil ich viele Themen ja letztes Jahr schon hatte. Ich dachte, irgendwie schaffe ich das schon. Und außerdem ist es doch nur das erste Halbjahr. Das zählt doch sowieso nicht.
Ich zücke mein Handy und schreibe Touri.
Was soll’s, im nächsten Halbjahr strenge ich mich einfach mehr an. Da bin ich ja sowieso an einer neuen Schule und kann ständig mit der Ausrede kommen: „Ach, tut mir leid. Das hatten wir an meiner alten Schule in Münster noch nicht.“
Dafür müssen sie ja wohl Verständnis haben!
Irgendwann entdecke ich einen Supermarkt und hole mir eine Tüte Chips. Die billigen. Dann kann ich mir gleich doch noch die Pommes holen.
An der Kasse hat sich eine riesige Schlange gebildet. Ich stelle mich also hinten an und sehe auf einem Ständer Einhorn-Stofftiere. Die würden Kati bestimmt gefallen. Der volle Girlie-Quatsch mit Regenbogen und so. Darüber hängt ein Schild:
Ach, Mist! Ich bring die Chips wieder zurück und schnapp mir eins von den Einhörnern.
4. VIN DIESEL
Da bist du ja endlich!“ Ihre Stimme klingt irgendwie erleichtert, aber auch ein bisschen vorwurfsvoll.
Kati kommt auf mich zugelaufen und umarmt mich. Sie drückt ihren Kopf ganz fest an meine Brust.
„Nicht wegrennen!“, sagt sie. Und so, wie sie’s sagt, nehme ich mir auch vor, es nicht mehr zu tun. Zumindest nicht so, dass sie es mitbekommt.
„Hier! Für dich!“, sage ich und halte ihr das Einhorn hin.
Kati kreischt vor Freude. „Für mich? Aaaaahhhh! Danke, danke, danke … Guck mal, Mami. Tim hat mir Einhorn mitgebracht!“ Stolz hält sie das Stofftier hoch und ich sehe, wie meine Mutter kurz lächelt.
„Wir müssen noch zur Schule“, sagt sie. „Dich anmelden. Die Sekretärin hat gesagt, dass wir noch bis 16 Uhr vorbeikommen können.“
Entweder ist es bis zur Schule tatsächlich ganz schön weit oder meine Mutter hat sich auf dem Weg dorthin hundert Mal verfahren.
Wir steigen aus dem Auto und ich schaue mir kurz das Gebäude an.
Das ist also meine neue Schule. Komisch, von einem auf den anderen Tag ist auf einmal alles neu: neue Stadt, neues Zuhause, neue Schule.
Im Sekretariat müssen wir warten, weil der Direktor mich kennenlernen möchte. Na super! „Sei ja nett zu ihm“, ermahnt mich meine Mutter, während wir uns auf zwei Holzstühle setzen.
„Ja, ja.“ Ich nehme mein Handy aus der Hosentasche.
„Steck das weg! Das ist unhöflich!“, zischt meine Mutter von der Seite.
„Aber …“ Ich will gerade protestieren und sagen, dass der Direx doch noch gar nicht hier ist, als neben der Sekretärin die Tür aufgeht. Ein Mann kommt heraus und mir bleibt erst mal der Mund offen stehen: Der Typ ist geschätzte zwei Meter groß, bepackt mit Muskeln und sieht auch frisurentechnisch aus wie Vin Diesel.
„Guten Tag! Ich bin Herr Angel.“ Er reicht meiner Mutter die