Seawalkers (3). Wilde Wellen. Katja Brandis
tatsächlich tot ist dann …
Sie merkte, dass wir sie hören konnten, und knallte ihre geistigen Barrieren herunter wie Eisentore.
Shari und ich blickten uns an. Wie seltsam. Was für eine Ausbildung hatte Miss White und was war daran so geheim?
Aber niemand hatte die Energie nachzufragen. Bedrückt blieben wir nah beieinander, ein winziger Funke Leben in einem riesigen, feindseligen Ozean. Adelina hielt uns gepackt und prügelte auf uns ein. Stunden vergingen und noch immer war Noah nicht aufgekreuzt.
Er hat sich bestimmt nur verirrt, meinte Blue trostlos und stieß wieder einmal mit aller Kraft einen Fernruf aus. Keine Antwort.
Wahrscheinlich ist er jetzt furchtbar einsam, fügte Shari hinzu und ich hörte in ihrer Stimme die Tränen, die sie als Delfin nicht weinen konnte.
Sein Gott des Meeres wird ihm beistehen, versuchte ich, sie zu trösten. Tangaroa lässt ihn nicht im Stich. Doch sie konnte bestimmt spüren, dass ich nicht wirklich daran glaubte.
Mit letzter Kraft
Die Rettungsaktion hatte Shari, Blue und Chris viel Kraft gekostet. Es fiel ihnen noch schwerer, den heftigen Seegang und das mühsame Atmen in der Gischt zu ertragen. Dass Noah vermisst wurde, schien ihnen den Durchhaltewillen zu rauben. Shari schaffte nur noch ganz kurze Tauchzeiten und auch Blue wirkte völlig erschöpft.
Wie geht’s euch?, fragte ich besorgt.
Gut, wieso?, erwiderte Shari, aber ich sah selbst, wie matt ihre Bewegungen waren.
Na ja, du schwimmst wie ein aufgetautes Fischstäbchen, meinte ich und das entlockte ihr immerhin ein Kichern.
Wir müssen sie beim Atemholen stützen, ob sie wollen oder nicht, flüsterte Miss White mir zu und ich schickte ihr wortlose Zustimmung. Beim nächsten Mal, als Shari zur Oberfläche hochtauchte, schwamm ich hinterher und setzte mich unter sie, sodass ich sie mit meinem breiten Kopf anheben konnte. Schließlich hatte ich mich in tieferen Wasserschichten ausruhen können, ich war der Fitteste von uns und hatte noch genügend Kraftreserven. Dass Shari die Hilfe dringend nötig hatte, merkte ich daran, dass sie nicht protestierte, sondern sich einfach von mir an der Oberfläche halten ließ. Neben mir machte Miss White mit Chris und Blue das Gleiche – auf einen Orca passten gleich zwei Delfine. Schlaff wie nasse Wäsche lagen sie auf dem vorderen Teil von Miss Whites Körper.
Es war längst Nacht geworden und wir wussten alle, dass es eine sehr lange, trostlose Nacht werden würde. Ich stellte mir vor, dass mein unbekannter Bruder ein Pottwal war, der uns zu Hilfe kommen würde und meine Freunde an der Oberfläche halten konnte wie eine dunkelgraue Insel. Doch wie hätte er uns in dieser tobenden Wasserhölle überhaupt finden sollen?
Shari … falls wir das hier nicht überstehen … möchte ich, dass du weißt …, begann Chris, er klang furchtbar erschöpft und begann, immer weiter abzusinken.
Obwohl ich mich um ihn sorgte, schaffte ich egoistischer Mistkerl es irgendwie, entsetzt zu sein. Der hatte doch nicht etwa vor, ihr jetzt eine Liebeserklärung zu machen?
… wie viel du mir bedeutest, fuhr Chris tatsächlich fort und sofort verkrampfte ich mich. Verdammt, das hatte ICH doch sagen wollen! Wie würde Shari reagieren?
Ganz einfach – sie reagierte gar nicht. Besorgt näherte ich mich ihr und Blue, die gerade wieder selbst schwammen, und stellte fest, dass sie ein Auge offen hatten und eins geschlossen hielten. Die beiden schliefen gerade auf Delfinart … und schwammen so geschmeidig weiter, dass keiner von uns etwas davon gemerkt hatte.
Chris’ Bewegungen wurden immer matter. Ich knuffte ihn in die Seite und nahm ihn dann auf die Schnauze, um ihn hochzutragen an die Oberfläche. Tja, das war nichts, Alter. Sie pennt.
Das freut dich, was?, murmelte Chris.
Mir ist es gerade scheißegal, du Depp! Sag’s ihr meinetwegen noch mal, wenn wir wieder an Land sind – bis dahin wirst du gefälligst durchhalten, verstanden?
Tigerhaie sind echt anstrengend, beschwerte sich Chris. Doch er riss sich tatsächlich zusammen, schwamm wieder etwas kräftiger und schnappte sich sogar ein vorbeitaumelndes Fischchen als Snack.
Irgendwie überstanden wir die Nacht in der tobenden See. Als die Sonne über den Horizont stieg, war der Hurrikan weitergezogen. Es hatte aufgehört zu regnen und der Wind pfiff nur noch, er kreischte nicht mehr. Die Wellen waren etwas kleiner geworden, obwohl sie noch immer über jede Palme hätten hinwegschwappen können. Wir waren alle sehr, sehr erleichtert.
Machen wir uns auf den Rückweg, sagte Miss White. Ich hatte keine Ahnung, wo die Küste war, doch zum Glück kannte sie sich hier aus und wandte sich in eine bestimmte Richtung. Sehr langsam schwammen wir zu den Florida Keys zurück, völlig niedergeschmettert, weil wir Noah verloren hatten, und voller Angst vor dem, was wir an Land vorfinden würden.
Die Küste sah übel aus. Vorsichtig näherten wir uns durch das trübe Meerwasser, in dem Palmwedel, Holzlatten, ein Badeschuh und jede Menge andere Wrackteile herumschwappten. Schwimmt langsam und passt auf, dass ihr euch nicht verletzt, mahnte unsere Lehrerin, die in den letzten Stunden sehr schweigsam gewesen war.
Wo sind wir hier?, fragte ich Miss White.
Key Largo, etwas westlich der Schule, erwiderte sie.
Oh, entfuhr es mir. Ich wohnte nun schon seit mehreren Wochen hier und trotzdem hatte ich die Gegend nicht erkannt, weil sie so verändert aussah. Ein Hotelschild lag umgedreht auf dem Boden, die ehemalige Leuchtreklame bestand nur noch aus einzelnen Drähten. Einem Tauchshop fehlte das Dach und vom Obstmarkt daneben war überhaupt nichts mehr zu sehen außer zwei oder drei durcheinanderliegenden Brettern und Bananen. Viele Palmen waren umgekippt oder abgeknickt. Im zerrupft wirkenden Küstenwäldchen lag eine Motorjacht auf der Seite, als hätte sie sich den Ort für ein Nickerchen ausgesucht. Ein anderes Boot schwamm mit dem Kiel nach oben neben einem fast komplett zertrümmerten Anlegesteg. Auf das halb eingestürzte Dach des Supermarkts hatte sich ein Fahrrad verirrt. Manche Leute hatten ihr Auto auf dem Parkplatz eines Restaurants stehen lassen – keine gute Idee, vom Baum darüber war ein dicker Ast abgebrochen und hatte ihre Dächer eingedrückt. Überall lagen Wrackteile, auf der Straße, an den kleinen Stränden.
Alles ziemlich schlammig, wahrscheinlich ist die Sturmflut erst vor Kurzem abgeflossen, meinte Chris beeindruckt. Wetten, hier stand meterhoch das Wasser?
Es sieht alles scheußlich aus, sagte Shari, aber sie klang apathisch, wahrscheinlich konnte sie nur an unseren verschollenen Freund denken.
Je näher wir der Schule kamen, desto nervöser wurde ich. Aber als das Gebäude der Blue Reef Highschool in Sicht kam, war ich erleichtert.
Steht noch, stellte Chris fest. Nur die beiden Bootsstege hat’s übel erwischt.
Als wir in die Lagune schwammen, sahen wir, dass die Mangroven aussahen wie von einem Riesen gerupft. Einige Palmen hatten auch daran glauben müssen, und Moment mal, wo war das Dach meiner Hütte?! Im demolierten Bootshaus war das schuleigene Schnellboot abgesoffen, es ragte nur noch der Bug aus dem Wasser.
Das Hauptgebäude sah besser aus – die Bretter, die wir vor die Fenster genagelt hatten, hatten gehalten! Doch auf den zweiten Blick merkte ich, dass das Geländer der Cafeteria-Terrasse verbogen war, die Befestigungen der Solaranlage vom Dach abgerissen waren und herumfliegende Trümmerteile Dellen in die Fassade geschlagen hatten.
Oh nein, seht ihr das, der Glastunnel zu den Verwandlungsarenen ist eingestürzt, rief Blue. Meint ihr, das kann man reparieren?
Bestimmt, sagte unsere Kampflehrerin. Aber das wird teuer, fürchte ich … und das mit der Solaranlage vermutlich auch.