Elefanten vergessen nie. Agatha Christie
Das wäre das Einfachste und Vernünftigste. Nichts zu unternehmen. Ein starkes Stück, einfach hinzugehen und einem Mädchen, das noch dazu mein Patenkind ist, zu berichten, was seine künftige Schwiegermutter herumerzählt und worüber sie die Leute ausfragt. Aber …«
»Ich weiß«, warf Poirot ein, »es ist die menschliche Neugier.«
»Ich möchte wissen, warum dieses abscheuliche Weib zu mir kam und das sagte«, antwortete Mrs Oliver. »So lange …«
»Ja«, sagte Poirot, »so lange können Sie nicht ruhig schlafen. Sie würden nachts aufwachen und – wie ich Sie kenne – auf die verrücktesten und seltsamsten Ideen kommen, die Sie wahrscheinlich kurz darauf zu einer hochinteressanten Kriminalgeschichte verarbeiten würden. Zu einem Kriminalroman, zu einem Thriller. Zu allem Möglichen.«
»So betrachtet, könnten Sie recht haben.« Mrs Olivers Augen begannen zu blitzen.
»Lassen Sie es sein«, mahnte Poirot. »Es wäre ein sehr schwieriges Unternehmen. Es scheint mir keinen triftigen Grund dafür zu geben.«
»Aber ich würde mich gern überzeugen, dass es keinen triftigen Grund gibt!«
»Menschliche Neugierde«, sagte Poirot. »Ein interessantes Gebiet.« Er seufzte. »Wenn ich denke, was wir ihr im Lauf der Geschichte verdanken. Neugier! Ich weiß nicht, wer sie erfunden hat. Man sagt sie gewöhnlich den Katzen nach. Aber ich möchte behaupten, dass in Wirklichkeit die Griechen die Neugier erfanden. Sie wollten wissen. Vor ihnen wollte, soweit ich informiert bin, keiner viel wissen. Man wollte nur wissen, wie man sich in dem Lande, in dem man lebte, verhalten musste, um nicht geköpft oder gerädert zu werden oder sonst etwas Unerfreuliches zu erleben. Aber man gehorchte, oder man gehorchte nicht. Sie wollten nicht wissen, warum. Seit damals wollen so viele Leute das Warum wissen, und deshalb ist so viel passiert. Heute gibt es Schiffe, Flugzeuge, Eisenbahnen und Atombomben, Penicillin und Mittel gegen alle möglichen Krankheiten. Ein kleiner Junge schaut zu, wie der Dampf den Deckel eines Wasserkessels auf dem Herd hebt, und schon haben wir die Eisenbahn, die in direkter Linie zu Eisenbahnerstreiks und Ähnlichem führt. Und so weiter und so weiter.«
»Sagen Sie mir nur eins«, sagte Mrs Oliver, »finden Sie, dass ich eine schreckliche Schnüfflerin bin?«
»Nein«, antwortete Poirot. »Im Großen und Ganzen halte ich Sie nicht für eine sehr neugierige Frau. Aber ich kann Sie mir gut vorstellen, wie Sie bei einer literarischen Party in Panik geraten, weil Sie sich gegen zu viel Liebenswürdigkeiten und Lob zur Wehr setzen müssen. Deshalb gerieten Sie in dieses Dilemma und entwickelten eine starke Abneigung gegen die Person, die Sie da hineinriss.«
»Ja. Ein schreckliches Weib. Sehr unangenehm!«
»Dieser lang zurückliegende Mord an einem Ehepaar, das angeblich gut miteinander auskam und sich nie stritt – man hat nie den Grund erfahren, sagen Sie?«
»Sie wurden erschossen. Ja, sie wurden erschossen. Es könnte ein Selbstmordabkommen gewesen sein. Ich glaube, die Polizei nahm das zunächst auch an. Natürlich kann man so viele Jahre danach nichts mehr feststellen.«
»O doch!«, behauptete Poirot. »Ich meine, ich könnte was rausfinden.«
»Wirklich? Mit Hilfe all der aufregenden Freunde, die Sie haben?«
»Nun, ich würde nicht gerade sagen, durch sie. Natürlich gibt es Freunde, die etwas wissen, die bestimmte Berichte beschaffen könnten, die Niederschriften, die damals über den Fall gemacht wurden. Ich könnte Zutritt zu bestimmten Protokollen bekommen.«
»Sie finden was heraus«, rief Mrs Oliver hoffnungsvoll, »und erzählen es mir dann.«
»Ja«, sagte Poirot, »jedenfalls könnte ich Ihnen alle Fakten zu dem Fall beschaffen. Allerdings wird das ein bisschen Zeit beanspruchen.«
»Wenn Sie das tun – ich hätte wirklich gern, Sie täten’s –, unternehme ich selbst auch etwas. Ich besuche das Mädchen. Ich finde heraus, ob sie irgendetwas weiß, ich frage sie, ob ich ihrer künftigen Schwiegermutter eine Abfuhr erteilen soll oder es sonst einen Weg gibt, ihr zu helfen. Ich möchte auch den jungen Mann kennenlernen, den sie heiraten will.«
»Sehr gut«, sagte Poirot. »Ausgezeichnet.«
»Und ich glaube«, sagte Mrs Oliver, »da gibt es ein paar Leute …« Nachdenklich runzelte sie die Stirn.
»Ich fürchte, dass uns die nicht viel helfen«, meinte Hercule Poirot. »Der Fall ruht längst in der Vergangenheit. Zur damaligen Zeit vielleicht eine cause célèbre. Aber was ist eine cause célèbre, wenn man es genau überlegt? Wenn es nicht zu einem überraschenden dénouement kommt, was hier ja nicht zutrifft? Niemand erinnert sich.«
»Ja«, sagte Mrs Oliver, »das stimmt. So viel wurde in den Zeitungen geschrieben, und eine Zeit lang wurde immer wieder darüber geredet, und dann ging die Sache einfach unter. Wie das eben heute so ist. Wie bei dem Mädchen damals, Sie wissen schon, das von zu Hause weglief. Sie wurde nie gefunden. Das war vor fünf oder sechs Jahren. Jetzt entdeckte plötzlich ein kleiner Junge, der in einem Sandhaufen oder einer Kiesgrube spielte, ihren toten Körper. Nach fünf oder sechs Jahren!«
»Wenn man feststellen kann, wie lange der Körper dort gelegen hat, und wenn man alle entsprechenden Polizeiprotokolle durchliest, könnte man den Mörder vielleicht finden. Aber Ihr Problem ist schwieriger, denn es gibt zwei mögliche Lösungen: dass der Gatte seine Frau nicht leiden konnte und sie loswerden wollte oder dass die Frau ihren Mann hasste und einen Liebhaber hatte. Deshalb könnte es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen sein. Oder doch etwas völlig anderes. Jedenfalls wird man schwer etwas herausbringen. Wenn die Polizei damals nichts fand, muss das Motiv sehr schlecht zu erkennen sein und nicht auf der Hand liegen. Deshalb ist es ein Geheimnis geblieben. Ganz einfach!«
»Ich finde, ich sollte doch zu Celia gehen. Vielleicht hat das dieses schreckliche Weib tatsächlich gewollt – dass ich hingehe. Sie dachte, die Tochter wüsste was – nun, sie könnte ja etwas wissen«, überlegte Mrs Oliver. »Kinder sind so. Sie wissen die unglaublichsten Dinge.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie alt Ihre Patentochter damals war?«
»Nun, so aus dem Handgelenk kann ich’s nicht sagen. Neun oder zehn vielleicht oder auch älter. Ich glaube, sie war damals von zu Hause weg, im Pensionat. Aber das kann ich mir auch nur einbilden, oder ich habe es damals gelesen.«
»Sie glauben, es war Mrs Burton-Cox’ Wunsch, dass Sie aus der Tochter Informationen herausholen? Vielleicht weiß die Tochter etwas, vielleicht hat sie es dem Sohn erzählt und der seiner Mutter. Ich könnte mir vorstellen, dass Mrs Burton-Cox versuchte, das Mädchen selbst zu fragen, und eine Abfuhr kriegte. Da dachte sie, die bekannte Mrs Oliver ist ihre Patin und hat außerdem viel kriminalistische Sachkenntnis. Sie könnte die Informationen bekommen. Trotzdem begreife ich immer noch nicht, warum sie das wissen will«, grübelte Poirot. »Ich glaube auch nicht, dass ›die Leute‹, wie Sie sie vage bezeichnen, Ihnen nach so langer Zeit helfen können. Würde sich überhaupt jemand erinnern?«
»Ich glaube doch«, behauptete Mrs Oliver.
»Sie überraschen mich«, entgegnete Poirot und sah sie etwas verwirrt an. »Erinnern sich die Leute wirklich?«
»Ach«, sagte Mrs Oliver, »ich dachte eigentlich an Elefanten.«
»Elefanten?«
Wie so häufig fand Poirot, dass Mrs Oliver wirklich sehr sprunghaft war. Wieso plötzlich Elefanten?
»Gestern, beim Essen, dachte ich an Elefanten«, sagte Mrs Oliver.
»Warum, in aller Welt?«, fragte Poirot neugierig.
»Also, genauer gesagt, ich dachte an Zähne. Sie wissen schon, man versucht, was zu essen, und wenn man falsche Zähne hat – dann geht es nicht so gut. Man muss wissen, was man essen darf und was nicht.«
»Ach, ja!«, rief Poirot mit einem tiefen Seufzer. »Die Zahnärzte können viel für einen tun, aber eben nicht alles.«
»So