Das unheilvolle Niesen. Monica Wegmann

Das unheilvolle Niesen - Monica Wegmann


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ist jetzt in einem Seitengässchen, wo es keine Cafés und Restaurants mehr gibt. Auch sieht sie keine Einkaufsläden mehr. Hier scheinen die Leute zu leben und zu wohnen. Hie und da stiehlt sich ein Licht aus den Stuben, und leise Musik klingt durch die verschlossenen Fenster. Sie ist so entsetzlich müde. Ihre Füsse schmerzen. Sie friert. Sie will nach Hause.

      Erschöpft setzt sie sich auf die Stufen eines Hauseingangs. Von da kann sie direkt in eine Stube sehen. Eine Party scheint stattzufinden. Sie kann ausser der Musik nichts hören, doch sieht sie, wie die Leute da drinnen lachen und reden. Ihr scheint, als könne sie die Leute scherzen hören.

      Die Kälte steigt ihr über die Füsse und Beine, über das Gesäss, den Rücken hoch, und sie schlägt mit den Armen um den Körper, um sich ein wenig zu erwärmen.

      Aus der Stube ihr gegenüber fällt ein warmes Licht. Es fällt direkt dahin, wo sie sitzt. Fasziniert betrachtet sie den Lichtschein und taucht ein in das Gefühl der Wärme, das von diesem Licht ausgeht. Sie spürt die Kälte jetzt viel weniger. Sie ist sich ganz sicher, dass dort drinnen ihre Lieblingsmusik gespielt wird. Versonnen hört sie der Musik zu, und eine wohlige Wärme beginnt über die Beine in ihren Körper aufzusteigen. Immer intensiver wird das warme Licht, bis sie sich ganz darin eingehüllt fühlt. Weit weg – und doch nah – erklingen leise Glöckchen.

      Wie sich das alles ergänzt. Das Licht, die Wärme, die Musik und die Glöckchen! Gerda verliert sich völlig in diesem Geschehen, und ein grosser Friede kommt über sie. Engel kommen und tragen sie hinauf in dieses Licht. Immer höher und höher. Gerda wird es immer leichter. Grosse Ruhe und tiefer Frieden überkommen sie.

      Am nächsten Morgen findet sie der Hauswart. Eingeschlafen, aber immer noch mit ihrem schönen Lächeln auf ihrem jetzt entspannten und faltenlosen Gesicht.

      ♦

      Angst

      Ich sehe die vermummten Männer vor meinem Bankschalter, ihre Gesichter sind mit schwarzen Schals bedeckt, und ich sehe nur ihre Augen. Ich versuche den Notknopf zu erreichen, werde aber vom dicken, vermummten Mann daran gehindert. Die Männer sagen irgendetwas, das ich nicht verstehen kann. Mein Gehirn spielt verrückt, und mein Denken setzt aus. Mir sitzt ein Kloss im Hals. Ich versuche zu sprechen, doch kein Laut kommt heraus.

      «Hinlegen!», schreit der grosse maskierte Mann. Ich komme in die Realität zurück und sehe, wie sich die Kunden auf den Boden legen. Auch ich lege mich hin. Hitze durchflutet meinen Körper, der Magen krampft sich zusammen. Ich bin zu keiner Bewegung mehr fähig, mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Wie im Film sehe ich die drohenden Bewegungen der drei Männer.

      Ein Kind fängt an zu weinen. «Schau zu, dass dein Gör die Schnauze hält, oder ich erschiesse es!», schreit mit galliger Stimme der kleine, drahtige Maskierte. Wie auf Kommando drehen sich alle Gesichter zu ihm hin, alle bleich und fassungslos. Horrorbilder drängen sich mir auf: erschossene Menschen, Blut – überall. Wut steigt in mir hoch, verdrängt für einen kurzen Augenblick das Gefühl der Ohnmacht. Endlich kann ich wieder sprechen: «Ihr könnt doch nicht...»

      «Schnauze!», zischt der Grosse. Es läuft mir kalt über den Rücken. Ich möchte mich in Luft auflösen, höre jedoch meinen eigenen Atem so laut wie das Rauschen eines Bachs. Ich bemühe mich, dies in den Griff zu bekommen, doch je mehr ich es versuche, desto lauter höre ich mich atmen. Wenn sie mich hören, werden sie mich erschiessen, geht es mir durch den Kopf. Am Fussboden liegend, platziere ich meine Arme über den Kopf und versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

      «Du, da! Steh auf!» Jemand versetzt mir einen Fusstritt in die Rippen. Mir flimmert vor den Augen. Ich bemühe mich schnell aufzustehen, doch ein zentnerschweres Gewicht scheint auf mir zu liegen, und ich brauche all meine Kraft, um mich zu erheben.

      Ich schaue in das Gesicht des grossen Maskierten und sehe, dass er etwas sagt, verstehe jedoch kein Wort. Mein Körper wird von einer eisigen Hand umfasst, die das Denken einfriert. Der Grosse schlägt mir ins Gesicht. Jetzt verstehe ich: «Tu das ganze Geld hier in den Koffer.»

      Ich stehe jetzt ausserhalb meines Körpers und sehe mir zu, wie ich ein Bündel Noten nach dem anderen in die Tasche gebe. Ich sage zu mir selbst, dass dies unrecht ist, dass ich etwas tun muss. Ich will dem allem Einhalt gebieten, schaue mir jedoch zu, wie ich, einer Marionette gleich, auf sämtliche Befehle reagiere.

      Dann fällt plötzlich ein Schuss. Ich lasse mich zu Boden fallen, unfähig, mich zu kontrollieren. Mir ist eiskalt. Mein Herz hämmert wild, ich spüre es bis in den Hals. Das Zittern wird immer stärker, ich spüre wie meine Hände, meine Füsse auf dem Fussboden aufschlagen. Ein unverständlicher Befehl seitens der Maskierten – dann grosse Ruhe.

      Plötzlich reden alle durcheinander. Nur langsam begreife ich, dass alles vorbei ist. Ich stehe auf, und erst jetzt realisiere ich die aufgeregten Leute, die alle durcheinander reden und gestikulieren. – Jetzt rufe ich die Polizei – kann endlich abgeben, bin nicht mehr verantwortlich.

      ♦

      Lieber, böser Freund

      Sie ist hübsch. Nicht schön, aber hübsch. In ihrer Nähe fühlt man sich wohl, sie hat eine so warme Ausstrahlung. Heute allerdings sind ihre sonst schelmischen Augen voller Trauer. Ihr Gesicht ist blutunterlaufen und aufgedunsen. Es macht mich elend, sie so zu sehen.

      Vor fünf Jahren sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum. Ihre prall gefüllte Einkaufstasche barst auseinander, und die Tomaten, Äpfel, Seife, Wurst, Reis und Brötchen kullerten bunt durcheinander, teilweise unter die parkierten Autos. Sie besah sich einen kurzen Moment das Malheur und lachte dann schallend los. Sie begann die Dinger wieder einzusammeln, und ich half ihr dabei. Als sie sich schliesslich bäuchlings auf den Boden legte, um eine Tomate unter einem Auto hervorzuholen, lachte auch ich.

      Ich sehe sie an, betrachte ihr geschundenes Gesicht, und mir wird schlagartig bewusst, dass sie schon lange nicht mehr so gelacht hat. Ein Gefühl der Wärme durchströmt mich, und ich möchte sie in die Arme nehmen. Tue es aber nicht.

      Damals, als wir all ihre Einkäufe wieder eingesammelt hatten, lud sie mich zu einer Tasse Kaffee ein. Ich hörte ihr zu, sah ihr Lächeln, ihre verschmitzten Augen, ihre so ausgeprägte Gestik, als sie von den vielen Pleiten erzählte, die ihr immer wieder unterliefen. Sie sei von Natur aus linkisch, die Pannen vorprogrammiert, sagte sie. Dann erzählte sie mir von ihrem Freund, vom Glück, einen Menschen wie ihn um sich zu haben.

      Von da an trafen wir uns ab und zu – zu einem Gläschen Wein, einer Kinovorstellung oder einem Abendessen. Irgendwann bemerkte ich, dass sie immer stiller wurde, nicht mehr so oft ausgelassen war. Es gab Momente, in der Trauer aus ihren Augen sprach. Doch sie wollte nicht darüber sprechen. Ganz allmählich erlosch der Schelm in ihren Augen, und sie war kaum mehr unbeschwert und aufgezogen.

      Gestern hatten wir uns verabredet und wollten uns «Herr der Ringe» im Kino ansehen. Als sie eine halbe Stunde nach Beginn immer noch nicht aufgetaucht war, fuhr ich zu ihrer Wohnung. Im Schlafzimmer und in der Küche brannte Licht, also klingelte ich. Auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete sie nicht. Ich hatte Angst und begann an die Türe zu poltern. Doch erst als die Nachbarn ins Treppenhaus kamen und schimpften, öffnete sie. Ich war auf einiges gefasst, doch nicht auf das! Ihr Gesicht und ihre Kleidung waren über und über mit Blut verschmiert, ihr Gesicht so verschwollen, dass ihre Augen kaum mehr zu sehen waren. Auch konnte sie sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten.

      Nach dem ersten Entsetzen, als ich wieder klar denken konnte, fuhr ich sie ins Spital. Ich bombardierte sie mit Fragen, doch sie war nicht in der Lage, darüber zu sprechen, was geschehen war.

      Jetzt, im Spital halte ich ihre Hand und schaue zu, wie sie langsam erwacht. Sie macht die Augen auf und schaut mich eine Weile unverwandt an. Ich schlucke leer. Ganz, ganz leise sagt sie: «Bitte, bitte bleib.»

      «Ich habe nicht vor zu gehen», antworte ich ebenso leise.

      «Aber, sag mir, um Gotteswillen, was geschehen ist.»

      Sie bleibt stumm. Tränen laufen aus ihren Augenwinkeln und tropfen auf


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