Das Buch der Macht. Jivako .
Das erschien mir als die beste Möglichkeit, in relativer Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen leben zu können. Mit Spiritualität hatte ich indessen nichts zu tun. Meine Religion hieß Rock and Roll und meine favorisierten Prediger hießen Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Lemmy Kilmister.
Was mich schlussendlich doch dazu bewog, den spirituellen Weg zu gehen, war nicht die Sehnsucht nach Erleuchtung oder nach einem bewussteren Lebensstil, sondern ein gut platzierter Kopfstoß, der mich zwei Schneidezähne kostete und mir zu einer unerwarteten „Schau“ verhalf.
In jenem denkwürdigen Moment, als der Schädel des anderen, knapp unterhalb meiner Nase auf meiner Oberlippe aufschlug, kam mir ein Bild zu Bewusstsein. Der Aufprall hatte es aus dem Regal meiner Erinnerungen geschleudert. Es war der Schnappschuss eines Mannes, der in hohem Bogen durch die Luft flog.
Tatsächlich hatte ich zehn Jahre zuvor vor einem Plakat gestanden, auf dem genau dieses Bild zu sehen war. Irgendjemand hatte es an die Eingangstür zur Turnhalle meiner alten Schule gehängt. Jetzt war das Bild wieder da und bewog mich dazu, nach einer Kampfsportschule zu suchen. Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt.
Ich erinnere mich noch gut an meine erste Trainingsstunde in dieser Schule. Sie wurde zum Beginn eines neuen Lebens und so will ich erzählen, was damals geschah.
Nachdem ich in der Schule, die ich in einem Telefonbuch gefunden hatte, angekommen war und durch den kreisrunden Eingang in die Trainingshalle gestiegen war, setzte ich mich an den Boden und wartete. Langsam begann sich die Halle mit Menschen in schwarzen Kampfanzügen zu füllen, die sich sodann, einer nach dem anderen, mit den Gesichtern zu den Wänden auf den Boden setzten und in anhaltendem Schweigen verharrten. Ich beobachtet das Geschehen.
Schließlich betrat der Meister den Raum. Er fiel mir gleich durch seine aufrechte Körperhaltung und seinen würdevollen Gang auf. Ich fand ihn auf Anhieb „cool“. Wie alle anderen, setzte auch er sich mit dem Gesicht zur Wand auf den Boden und schwieg. Nach ein paar Minuten allgemeiner Stille gab er ein Zeichen, woraufhin sich alle in einer bestimmten, anscheinend streng geregelten Weise im Raum aufzustellen begannen.
Da ich neu und ohne „Rang“ war, wurde mir ein Platz in der äußersten Ecke des Raumes zugewiesen. Andere Länder, andere Sitten, dachte ich. Wieder setzten sich alle auf den Boden, doch diesmal dem Meister zugewandt. Das Training begann wortlos und mit einer Meditation. Da ich zu dieser Zeit noch nicht wusste, was Meditation bedeutet, tat ich einfach das, was ich bei den anderen sah, also nichts. Dann geschah etwas Unerwartetes.
Mit einem Mal wurde ich von einer inneren Bewegung ergriffen. Alles was gerade eben noch fest gewesen war, begann sich nun von innen heraus in einer Art subtilen Vibration zu lösen. Meine Gesichtsmuskulatur bebte und mein Herz überschlug sich. Ich konnte absolut nichts dagegen tun. Schließlich liefen mir die Tränen in Strömen. Währenddessen blickte ich in das Gesicht des Meisters, der in schweigender Vertiefung am oberen Ende des Raumes saß. Dann bemerkte ich, dass es größer und größer wurde und schließlich erkannte ich, dass es das Gesicht jenes Mannes war, den ich als zwölfjähriger Junge auf dem Plakat gesehen hatte. Nun bebte jede Zelle meines Körpers und die Zeit schien still zu stehen. Währenddessen hörte ich eine deutliche Stimme in meinem Kopf, die sagte, dass ich die nächsten Jahre mit diesem Herrn verbringen würde. Ich war fassungslos!
Die folgenden sieben Jahre verbrachte ich in unmittelbarer Nähe meines Lehrers und lernte von ihm. Meine vorerst letzte körperliche Begegnung mit Sonsanim, das ist sein Titel, hatte ich im Jahre 2013. Bei dieser Gelegenheit erklärte er mir, dass unsere Verbindung jenseits der Grenzen von Zeit und Raum begründet sei und dass wir infolgedessen dauerhaft verbunden seien. Für mich sind das keine leeren Worte, sondern es ist meine lebendige Erfahrung.
4. Grüßen Sie tausendmal am Tag!
Die erste praktische Unterweisung, die ich von Sonsanim erhielt, bestand aus einer sehr einfachen Empfehlung, die nichts mit Selbstverteidigung zu tun zu haben schien. Ihren Sinn erkannte ich erst später, doch ich befolgte sie dennoch. Es sollte sich herausstellen, dass die Übung meine bisherige Erfahrung der Welt von Grund auf verändern sollte.
Falls Dir die Geschehnisse zusagen, die ich im Folgenden beschreiben werde, möchte ich Dich dazu ermutigen, meinem Beispiel zu folgen, denn ohne jeden Zweifel würdest Du zu ähnlichen Erfahrungen gelangen. Die Anweisung, die ich damals von Sonsanim erhielt, bestand in einfachen Worten:
„Grüße Sie tausendmal am Tag!
Grüße Sie Opa, grüße Sie Oma, Biene Maja, Drogensüchtige und Alkoholiker. Grüße Sie alle und ohne Unterschied!
Mache Sie keinen Unterschied zwischen König und Bettler. Grüße Sie nicht mit Mund. Grüße Sie mit Herz. Sonst Sie kommen vielleicht in Haus fir Verrickte.“
Des Weiteren erklärte mir Sonsanim bei dieser Gelegenheit, dass die Übung zwar nur eine Technik sei, doch dass sie zu einem gewissen Zeitpunkt zu meiner echten und ehrlichen Erfahrung heranreifen würde. Bis dahin solle ich ganz einfach damit fortfahren zu grüßen und genau dies tat ich. In der folgenden Zeit ereigneten sich merkwürdige Dinge. Ich hatte den Eindruck, dass sich die Menschen mir gegenüber anders verhielten, als sie es bisher getan hatten. Grundlos lächelten mich fremde Menschen auf der Straße an und wo immer ich hinkam, tauchte bald irgendjemand auf, der irgendetwas von mir wissen wollte oder der mir seine Hilfe anbot. All dies erschien mir, wie ein Wunder. Manchmal ging es sogar soweit, dass Autos auf der Straße anhielten, um mich passieren zu lassen. Kurzum, ich erlebte eine völlig veränderte Welt. All das war mir neu und ich darf sagen, dass es mir durchaus gefiel.
Die Welt war sicherlich noch die gleiche wie vor kurzem. Gleichzeitig war sie es nicht. Sie war definitiv freundlicher, freudvoller und vor allem sicherer geworden. Tatsächlich war ich freundlicher, freudvoller und sicherer geworden und die Welt mit mir. Das Einzige, was ich hierzu beigetragen hatte, war, eine geringfügige Veränderung meiner bisherigen Gedanken vorzunehmen.
Bis dahin hatte ich gedacht: „Ihr könnt mich alle mal!“ Nun dachte ich:
„Hallo! Schön Dich zu sehen! Was kann ich für Dich tun?“
Was ich mit dieser Geschichte verdeutlichen will, ist, dass es sehr wohl möglich ist, die Welt zu ändern. Sie wird sich allerdings nur dann ändern, wenn Du bereit dafür bist, Dich selbst oder besser gesagt Deine Gedanken zu ändern.
Im Laufe der Jahre habe ich diese „Technik“ an viele Menschen weitergegeben, die in der Folge zu ähnlichen Erfahrungen gelangt sind. Somit kann ausgeschlossen werden, dass es sich bei all dem lediglich um Zufall handelte. Meine Schlussfolgerung sieht daher folgendermaßen aus:
Wenn Du etwas erleben willst, das Du bisher noch nie erlebt hast, musst Du damit anfangen, etwas zu denken, das Du bisher noch nie gedacht hast.
Wenn Du bereit dafür bist, Deine gewohnten Gedanken zu ändern, wirst Du von anderen Bedeutungen erfüllt sein und dann wirst Du automatisch etwas anderes verkörpern. Was immer Du, durch Deine Gedanken, Worte und Taten, zum Ausdruck bringst, wird Dir von den Menschen in Deinem Umfeld „gespiegelt“ und an dem, was sie Dir spiegeln, erkennst Du, was Du in Dir trägst. Somit kann Dir jeder Mensch in Deinem Leben zu größerer Bewusstheit verhelfen. Sonsanim sagte hierzu lapidar:
„Es ist eine spiegelnde Welt.“
Wenn Du es auf diese Weise betrachten kannst, wirst Du nicht länger von Feinden und Störenfrieden umgeben sein, sondern von Entwicklungshelfern. In diesem Sinne war einer meiner ganz großen Entwicklungshelfer jener Herr, der mir den alles entscheidenden Kopfstoß verpasst hatte, der mich aus meinem „Schlaf“ geweckt hatte. Und wer weiss, was ohne ihn aus mir geworden wäre. Ich habe daher die Wahl getroffen, für immer dankbar für seinen Dienst zu sein.
5. Wahrheit und Täuschung
Durch die einfache Anregung, die ich von Sonsanim bekommen hatte, war es mir tatsächlich gelungen, die Bedingungen in meinem Leben in relativ kurzer Zeit zu ändern und aktiv zum Besseren zu wenden. Das Beste an all dem war, dass ich die Veränderung ganz allein herbeigeführt hatte! Hierfür hatte offensichtlich eine simple, geradezu mechanische Korrektur meiner Gedanken ausgereicht. Dies verhalf mir zu drei befreienden Einsichten: