Das Meer und das Leben. Gerald Schneider
erleben auch wir nur selten. Nimm doch einfach einen ordinären Routinesturm. So etwas, was häufig vorkommt, was gewissermaßen zum Tagesgeschäft gehört. Unser tägliches Geschäft – also sowohl deines wie meines - wird durch das Alltägliche im wahrsten Sinne des Wortes besser beschrieben als durch irgendwelche Superstürme – egal wie elegant sie dargeboten werden. Und vergiss nicht: Maesfield und Conrad schreiben eigentlich über Menschen, der Sturm an sich ist nur die zuspitzende Bedingung – da wo die Charaktere freigelegt werden, die Verstellung aufhört. Du willst aber über Natur schreiben – aber schreib auch, wie man sich als Mensch fühlt, wenn das Schiff bockt und springt, damit dieser romantische Unsinn aufhört!“
Ich war platt. Also bitte: Ein Routinesturm.
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Wir ahnten, was uns bevorstand. Als sich Wissenschaftler und Mannschaft an diesem Freitag zum Frühstück in der Messe zusammenfanden, raste bereits seit 18 Stunden ein Sommersturm mit mittleren 80 km / h, also Windstärke 9, über die Ostsee. In Böen waren Spitzen bis 100 Stundenkilometer gemessen worden, was fast der Windstärke 11 entspricht. Aber noch war es nicht so weit, da die Abfahrt von Rönne auf Bornholm erst nach dem Mittagessen erfolgen sollte.
Zu jener Zeit bestand ein internationales Messprogramm zur Überwachung von wichtigen Umweltparametern in der Ostsee, an dem sich alle Anrainerstaaten beteiligten. Bestandteil des Programms waren auch regelmäßige Treffen von Wissenschaftlern zum Austausch von Ergebnissen, aber auch zum Vergleich der angewendeten Fang- und Messmethoden. Ein solcher Workshop war jetzt nach Bornholm anberaumt.
So sah die Bevölkerung der Insel eine Flotte von Forschungsschiffen in den Hafen einlaufen: Die gastgebenden Dänen schickten die „Gunnar Thorson“, Polen kam mit der „Hydromet“, die DDR mit „Penck“, wir mit unserem dreißig Meter messenden Forschungskutter „Alkor“. Die Schweden und Finnen liefen ein. Und dann kamen die Russen. Mit einem „Schlachtschiff“, der „Georgy Ushakov“, einem riesigen, über 100 Meter langen Forschungsschiff, das mit verdächtig viel Antennen ausgestattet war und eine ganze Pier allein benötigte.
Den größten Teil der Woche verbrachten wir in Besprechungen und Arbeitsgruppen, aber am Donnerstag sollte ein praktischer Methodenvergleich auf See stattfinden. Also verließen alle Schiffe den Hafen und dampften in nordwestlicher Richtung bis zu einer vorgegebenen Position. Am Morgen hatte sich ein leichter Wind erhoben, der aber ungeheuer schnell an Geschwindigkeit zunahm. Bereits am Mittag überschritt die Windgeschwindigkeit das erste Mal die 70 km / h – Grenze und schwoll weiter an. Die See sprang ebenfalls sofort an, was sich auf den Schiffen durch immer stärker werdendes, unangenehmes Stoßen und Schaukeln bemerkbar machte und dazu führte, dass zur Mittagszeit alle Schiffe ihre Positionen verließen und hinter Bornholm in Landschutz gingen. Hier konnten wir in Ruhe unsere Arbeiten beenden.
Als wir zur Rückfahrt wieder freies Wasser erreichten, blies uns der Wind mit Macht entgegen, die Flaggen der Schiffe standen brettsteif und knatterten im Wind. Der Himmel war eine Mischung aus Wolken und Sonne, was zu einer sehr malerischen Marmorierung des Meeres mit dunkleren Flecken und hellgrünen Bereichen führte.
Unsere „Alkor“ arbeitete schon ganz erheblich und die ersten Gischtspritzer kamen über den Bug. Den anderen kleineren Schiffen ging es ähnlich, allein „Georgy Ushakov“ schien unbeeindruckt. Jeder verzog sich so schnell es ging in den Hafen, wobei die armen Dänen am meisten auszuhalten hatten: Als Gastgeber postierten sie sich schwankend und rollend unweit der Hafeneinfahrt und warteten als höfliche Gastgeber bis der letzte drin war.
Die Nacht brachte kein Nachlassen des Windes, es wehte ungebremst weiter. Als ich im Dunkeln noch einen Spaziergang durch den menschenleeren Hafen unternahm, war die Luft angefüllt mit dem Brausen des Windes, dem Geklapper der Fahnenmasten, den hohen Pfeiftönen, die der Wind in den Antennen der Schiffe verursachte und dem dumpfen Gebrüll der Brandung, die sich außen an die Hafenanlagen entlud. Keine angenehme Atmosphäre und ein Hinweis darauf, was uns erwartete.
Den Vormittag des letzten Tages verbrachten wir damit, das Schiff seeklar zu machen. Alle noch nicht festgezurrten Kisten wurden gelascht, bereits erfolgte Laschings kontrolliert. Die besonders schweren Geräte wurden von der Mannschaft professionell gesichert. Die Filtrationseinheiten – wesentliche Werkzeuge von biologischen Meeresforschern –wurden mit jeweils zwei Schraubzwingen an den Labortischen unverrückbar fixiert. Jeglicher Kleinkram, Kugelschreiber, Pinzetten, Schreibunterlagen, Notizbücher, Kurzzeitwecker und was wir sonst noch benötigten, verschwand in Schubladen, die anschließend verschlossen wurden. Wo das nicht ging, wurden die Schubladen mit starkem Klebeband gegen Aufgehen gesichert. Eimer wurden zu Türmen zusammengepresst, hingelegt und festgekeilt.
Dann kamen die Messe und die Kabinen dran. Alle persönlichen losen, harten und generell leicht beweglichen Gegenstände verschwanden in Koffern und Taschen. Im Waschraum wurden alle Seifen, Duschmittel, Rasierapparate eingesammelt und sicher weggestaut. Schuhe verschwanden in den Schränken, die sich langsam zum Bersten füllten. Dann wurden die Schränke verschlossen.
Nach 2 ½ Stunden waren wir seeklar und bereit, es mit dem Sturm aufzunehmen. Vorher versammelten sich aber die Wissenschaftler noch einmal zu einem abschließenden Treffen. Wir versicherten uns gegenseitig, gute Arbeit geleistet zu haben, hoben die freundschaftliche und konstruktive Atmosphäre zwischen allen Beteiligten aus den politisch doch sehr unterschiedlichen Ländern hervor, besprachen weitere Termine und wünschten uns gegenseitig eine gute Heimreise.
Um 12: 30 Uhr ging es dann los. Nach festgelegtem Plan verließ ein Schiff nach dem anderen den Hafen, alle Signalhörner wurden zum letzten Gruß betätigt, so dass ein ohrenbetäubendes Gedröhn den Hafen erschütterte, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es wirkte angesichts des Chaos „da draußen“ wie ein gemeinsamer Kampfschrei vor der Schlacht, der kraftvolle Ausdruck gemeinsamer Entschlossenheit.
Siggi, unser einstmals aus der Fischerei gekommener Steuermann, huschte an mir vorbei, sagte kurz und unbeeindruckt „Na, dann woll’n wir mal“ und verschwand im Ruderhaus. Dann folgte das übliche Ritual: Die Maschine begann zu vibrieren, wie immer beim Anlassen des Motors wurde eine fauchende, schwarze Rauchwolke vom Schornstein ausgespuckt, vom Wind zerblasen und sofort weggeweht. Ein Mann enterte an Land und löste die Leinen, dann der Sprung aufs Schanzkleid und von da ins Schiff. Die Propeller schäumten das Hafenwasser auf und „Alkor“ löste sich vom Land.
Währenddessen zeigt uns der Wind noch einmal deutlich, was er von uns hielt, denn „Georgy Ushakov“ gelang es nicht, von der Pier loszukommen. Unglücklicherweise waren sie auf der Luvseite fest, so dass der Sturm mit Macht auf den Schiffskörper drückte. Die Mannschaft löste die Leinen, das Schiff schor von der Pier ab, aber – zack – hatte sie der Wind wieder gegen den Steg gedrückt. Das geschah noch ein zweites Mal und erst im dritten Anlauf gelang es dem Kapitän durch veränderte Maschinenmanöver sich im wahrsten Sinne des Wortes freizuschwimmen. Dann strebten auch sie erfolgreich der Ostsee zu.
Wir hatten den Hafen noch gar nicht richtig verlassen als uns die erste Welle bös‘ erwischte. Das Schiff sackte über Backbordbug weg, kassierte die volle Wucht der Welle, die sich daraufhin in einen Gischtberg auflöste und einmal über die ganze Backbordseite tobte. Dabei schickte sie auch einen entsprechenden Wasserstrahl in das offene Bulleye der Kombüse. Der Koch war gerade mit dem Aufklaren nach dem Mittagessen fertig als sich der Wasserschwall über die Geräte und den Fußboden ergoss. Smutje lief rot an, schloss aber ganz ruhig das Bullauge, drehte sich zu uns um und meinte: „So, Jungs, das war’s. Kochen wegen übertriebenen Seegangs gestrichen.“
Das kannten wir schon: Wenn „Alkor“ zu viel Bewegung machte, konnte der sonst unerschütterliche Koch nicht mehr sicher arbeiten und in der Messe hätte es auch nichts mehr genützt, die Tischtücher anzufeuchten und die Schlingerleisten an den Tischen hochzuklappen. Das Geschirr wäre im hohen Bogen darüber geschleudert worden. In solchen Fällen wurden Brot, Butter, Käse und Wurst irgendwo seegangsicher bereitgestellt und wir würden uns, wie schon öfter, bei Bedarf und Hunger irgendwo festkeilen und versuchen, Brote zu schmieren. Eine Hand für den Mann, eine Hand für das Butterbrot.
Dreißig Meter und 240 Bruttoregistertonnen gegen eine toll gewordene Ostsee! Nach dem Zwischenfall mit der Welle hatte der Steuermann das Schiff besser