Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama

Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama


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Noch nie hatte ein Mann sich so ritterlich für sie eingesetzt, sie überhaupt wahrgenommen. Ohne dass sie es selbst gewahr wurde, umspielte ein Lächeln ihre Lippen und ihre Augen strahlten ihn an, als er sich zu dem verletzten Kind hinabbeugte, ihm ins Gesicht leuchtete und es fragte: „War es wirklich dieser wilde Knabe oder hat dich nicht vielleicht ein Hund beim Stehlen erwischt und dich gebissen?“ Dabei wanderte sein Blick geringschätzig über die Lumpen, in die der Junge gehüllt war, bevor er sich fest in dessen Augen bohrte. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun, entzog sich seinem Griff und verschwand rasch in der sich auflösenden Menge.

      Vielleicht hatte Peter Gretes Schreie gehört, vielleicht aber hatte er sich auch nur aus panischer Angst an das Schaufelrad geklammert, das ihn nun nass wie eine Katze nach oben beförderte. Der magere Körper zitterte vor Kälte. Aufgrund der durchgestandenen Strapazen schien er so kraftlos, dass er drohte, wieder ins Wasser zurückzufallen. Die Männer mussten sich beeilen, ihn vom Rad zu ziehen. Zu ihrer Verwunderung ließ sich der Wilde widerstandslos von ihnen packen und in einen Sack stecken. Der Morgen graute bereits, als er im Kutschkasten der herzoglichen Kutsche des Kommissars ins Armenhaus zurückgebracht wurde.

       Ermittlungen

      Nachdem Aristide Burchardy den Knaben im Armenhaus abgeliefert und sich davon überzeugt hatte, dass er seinem Gefängnis nicht gleich würde entfliehen können, befahl er dem Kutscher noch einmal zur Schleuse zu fahren. Eigentlich hatte er vorgehabt den verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen. Doch als die Morgensonne langsam zwischen den vom Frühnebel verschleierten Bergkämmen hervortrat und einen warmen Sommertag versprach, fand er den Morgen zu schön, um ihn zu verschlafen. An der Brücke zum unteren Wehr am Werder, dort wo der Bau der neuen Schleuse geplant war, war es am Vortag zu einem Streit zwischen einem Arbeiter und einem protestantischen Emigranten aus Salzburg gekommen. Der Unterlegene wurde von dem Sieger angeblich in eines der beiden Schöpfräder gestoßen. Da nicht nachzuweisen war, ob es der Fausthieb seines Gegners oder die massigen Radarme waren, die ihn vom Leben in den Tod befördert hatten, oder ob er einfach nur von den Wasserkübeln erschlagen worden war, hatte Burchardy den Auftrag bekommen, Ermittlungen anzustellen. Denn so mancher vom Zaun gebrochene Streit, der die Arbeiten an der Schleuse hinauszögerte, wurde von Intriganten aus dem Hintergrund geschürt. Immerhin hatten die Schiffer viereinhalb Jahrhunderte an der Fischpforte anhalten und ihren pflichtgemäßen Zoll an die Stadt bezahlen müssen. Diese einträglichen Geschäfte wollte die Stadt nicht verlieren, weshalb sich zahlreiche Hamelner Bürger gegen diesen Neubau der fürstlichen Landesherrschaft wehrten. Doch das Wasser der Weser strömte mit solcher Heftigkeit durch den holzverschalten Durchlass im unteren Wehr neben der Pfortmühle, dass es zu einem der schlimmsten und gefährlichsten Schifffahrtshindernisse wurde. Diese Gefahr wollte nun die kurfürstliche Regierung mindern und stieß dabei auf Gegner, denen jedes Mittel recht war, die freie Weiterfahrt der Schiffe zu verhindern.

      Der Kommissar hoffte, den Vogt, der mit den Plänen zum Bau der Schleuse auf dem Werder betraut war, an dem Wehr anzutreffen. Er hatte Glück. Der Beamte überwachte gerade die beginnenden Erdarbeiten zu der neuen Schleusenkammer. Aristide traf den Vogt auf der Brücke in der Gesellschaft des Hamelner Sägemüllers, dessen untrügliches Erkennungszeichen ein lautes Mundwerk, lange Lederstiefel, sowie sein weiter Mantel und der große dunkle Hut waren. Die beiden Männer inspizierten die erste von vierundzwanzig imposanten Pumpen, die von zwölf Pferden über die Brücke gezogen wurde.

      „Nun, Sägemüller. Wie es aussieht, wird es wohl bald ernst. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr den Bau leiten werdet“, begrüßte ihn Burchardy.

      „Ach, Aristide. Das kann sich noch ein paar Jahre hinziehen. Der Premierminister des Königs hat die Pläne und Kosten leider immer noch nicht bewilligt. Aber es ist gut, dass Ihr kommt.“

      „Meint Ihr den Premierminister des Königs oder des Prince of Wales, unseres Möchtegernkönigs?“ Burchady grinste zweideutig.

      „Wie konnte ich sie nur vergessen, die Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn. Da vergisst man schon mal, wer regiert“, lachte der Sägemüller zurück. „Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass König Georg Ludwig und sein Sohn Georg August sich irgendwann wenigstens in dieser Angelegenheit einig werden. Schließlich wollen sie doch beide die Schleuse.“

      „Ihr kommt wegen des Vorfalls?“, fragte der etwas dickliche, unter seiner Perücke schwitzende Vogt mit einem mürrischen Seitenblick auf den hochgewachsenen Kommissar.

      „Ja, Euer Ehren, die Streitigkeiten unter dem Arbeitsvolk gehören in meinen Ermittlungsbereich.“

      „Ihr könnt dem Geheimen Rat in Hannover mitteilen, die Angelegenheit hat sich von allein erledigt. Sie liegt jetzt in den Händen der städtischen Polizei. Diesmal ging es nur um ein Weib und zwei Hitzköpfe. Keine Ränkespiele, keine Intrige!“

      Burchardy deutete eine kurze Verbeugung an und sagte: „Das zu erfahren wird der kurfürstlichen Regierung eine Freude sein.“

      Im Angesicht der neuerlichen Umstände auf keine weiteren Gespräche eingestellt, lüftete er grüßend den Hut und schickte sich an, die Brücke wieder zu verlassen, als der Sägemüller wie beiläufig in seinem Rücken fragte: „Ermittelt Ihr auch im Fall des wilden Knaben? Ich habe Euch gesehen, am Wehr bei den Mühlrädern.“

      Burchardy kam noch einmal zurück und drehte ihm interessiert das Gesicht zu. „Nein, ich war eigentlich nur ein zufälliger Beobachter. Warum fragt Ihr?“

      „Unter den Leuten in der Stadt kursieren ja allerlei Gerüchte um das wilde Kind. Habt Ihr eine Vermutung, woher es kommen könnte?“

      „Nein!“ Burchardy schüttelte den Kopf. „Aber als fürstlicher Beamter sollte ich dem vielleicht nachgehen.“

      „Da kann ich Euch gleich einen gut gemeinten Hinweis geben. Am Westufer des Sollings, in einem alleinstehenden Wirtshaus in Lüchtringen, da wo die Schiffer auf dem Weserstrom ihre Ablagen und Ruhestunden halten, hat der Wirt zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen gehabt. Sie sollen dumm, stumm und ungebärdig gewesen sein, wie der Wilde. Der Junge ist dann irgendwann in den Wald entlaufen. Einer meiner Schiffer will im Vorjahr, im Sommer, den Knaben nackt am Flussufer unterhalb von Polle gesehen und ihn mit Brot beschenkt haben.“

      „Ihr haltet den Wilden also für einen entlaufenen Irren?“ Burchardy war nicht anzusehen, was hinter seiner Stirn vorging. Er lächelte zweifelnd. „Dann handelt es sich bei dem Jungen sicher nicht um den von Müller gefundenen Knaben. Denn der Wilde verweigert Brot und scheint mir sehr intelligent beim Ausbrechen. Aber ich danke Euch für den Rat. Vielleicht ist an der Sache ja etwas dran. Allerdings“, fügte er hinzu und konnte nicht umhin, hinter vorgeschürzter Hand ein wenig vor ihm anzugeben, „vermute ich hinter dem Auftauchen des Knaben einen viel bedeutenderen Hintergrund. Einen, der eventuell in die höchsten Kreise reicht. Sollten sich meine Vermutungen bestätigen, gäbe das einen Skandal nie gekannten Ausmaßes.“

      Der Sägemüller bekam große Augen. „Was meint Ihr mit ‚höchste Kreise‘? Den königlichen Hof? Tragt Ihr da nicht ein bisschen dick auf? An was denkt Ihr? An des Königs Mätressen? Die britischen Zeitungen schreiben ja tagtäglich über die beiden Damen und das nicht gerade sehr rühmlich. Jetzt behaupten sie sogar, der König teile sein Bett mit seiner Halbschwester. Die andere, die Melusine, nennt man eine hässliche Schlampe. Ihre Kinder werden als ‚königliche Bastarde‘ betitelt. Seine Geschiedene, die Prinzessin von Ahlden, wird dagegen wie eine Heilige verehrt. Sie sei von ihrem Gatten gnadenlos in die Verbannung geschickt worden, damit er ungehemmt seine Geliebten besteigen könne. Lasst mich raten – Ihr wollt denen diesen wilden Bastard unterjubeln. Einen, den sie in aller Heimlichkeit haben verschwinden lassen. Aber wenn es nicht stimmt, könnte Euch das auch den Kopf kosten.“

      „Wie ich höre, lest Ihr die britischen Zeitungen?“ Burchardy zeigte sich nicht erstaunt und grinste spöttisch.

      „Natürlich nicht. Ich kann ja kein Englisch. Aber mittlerweile gibt es auch bei uns genügend Übersetzungen und namhafte Schriftsteller, die sich dieser Schmiertexte angenommen haben. Neulich habe ich gelesen, die Briten bezeichnen Georg als ‚deutschen Rattenkönig‘. Seit seiner Krönung zum englischen König im Jahre 1714 würde er das britische


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