Die esoterische Botschaft der Märchen. Manfred Ehmer

Die esoterische Botschaft der Märchen - Manfred Ehmer


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rar zu sein; durchweg stellt der Lindwurm das Niedere, das Gegnerische, zu Bezwingende dar. Vielleicht deswegen, weil das Reptil, die Echse, der Saurier, allesamt Urformen des Drachens, evolutionär niedere Lebensformen als der Mensch darstellen? Hat sich der Mensch im Drachenkampf mit seiner eigenen evolutionären Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wie im Falle des Einhorns scheint sich die Frage nach der historischen Realität des Drachens zu erübrigen. Man könnte ja wohl mutmaßen, dass der Mensch als Spezies viel älter ist als bisher angenommen wurde – dass er vielleicht noch Augenzeuge der Riesenechsen der Kreidezeit war, mit denen er furchtbare Kämpfe zu bestehen hatte? Eine reizvolle Spekulation, aber größere Bedeutung besitzt die esoterische Bedeutung des Drachens.

      Esoterisch gesehen stellt der Drache geradezu den entgegengesetzten Pol zum Einhorn dar. Verkörpert das Einhorn das höhere, das geistig-göttliche Selbst, die Monade, so ist der Drache ein Sinnbild für die niedere Astralnatur des Menschen. Der Kampf des Einhorns mit dem Drachen und der letztendliche Sieg über diesen bedeutet die Bezwingung des niederen astralen Selbst durch den höheren, seiner Göttlichkeit bewusst gewordenen Geistesfunken. Das muss nicht bedeuten, dass Drachen „böse“ sind, sondern sie stehen eher – wie alles Astrale –„jenseits von Gut und Böse“, darin der ewig schaffenden und zerstörenden Natur ähnlich. Die „Weisheit der Drachen“, auch ihre magische Kunstfertigkeit, ist reine Astralweisheit. Diese mag für niedere Naturmagie gut brauchbar sein, lässt sich aber mit der spirituellen Weisheit des Einhorns nicht vergleichen. Die gnostische Sekte der Ophiten in den Tagen des Frühchristentums sah den weltumgürtenden Drachen Leviathan als Sinnbild für den die Erde umringenden Astralgürtel mit seinen zwölf Tierkreiszeichen. Und sie wusste wohl, dass gerade diese Weltenschlange der eigentliche „Herrscher dieser Welt“ war, dessen Zugriff es sich auf dem Wege stufenweiser Einweihung zu entziehen galt.

       Der Greif

      Der Greif ist ein fabelhaftes Mischwesen aus dem Altertum, mit dem Leib eines Löwen, Adlerkopf, Flügeln und Krallen; er begegnet uns später noch als Wappentier, auf Gemmen und in der römischen Kunst auf Sarkophagen. In der griechischen Sage dachte man ihn am rhipäischen Gebirge hausend, wo er die Goldschätze des Nordens gegen die Arimaspen verteidigte, ein mythisches einäugiges Volk nahe am Polkreis. Als Goldwächter wurden die Greifen auch in Indien, Äthiopien und in anderen Ländern lokalisiert. Er war ein Sinnbild für Hoheit, Macht und wegen des durchdringenden Blicks für Wachsamkeit. Zwei wahrhaft königliche Tiere, der Adler und der Löwe, vereinigten sich in diesem Fabeltier zu einer Synthese.

      Der Greif erscheint ursprünglich in der Kunst Mesopotamiens, von wo er in die unter orientalischem Einfluss stehende archaische Kunst Griechenlands eindringt; dort galt er als dem Apollon und der Artemis geheiligt. Der Greif war bereits in der kretisch-mykenischen Kunst verbreitet, wie etwa das berühmte Greifenfresko im Thronsaal von Knossos zeigt; das Motiv selbst war um 1500 v. Chr. aus dem Orient über Syrien nach Kreta gekommen, und im Orient liegen denn auch die Ursprünge dieses Fabelwesens.

      Über persische und islamische Sagen wird es dem Abendland erneut bekannt gemacht; in der mittelgriechischen Buchmalerei finden wir ihn unter den Tieren der Arche, und der fabulöse PHYSIOLOGUS, eine Art mythische Tierkunde der späten Antike, nennt ihn zusammen mit dem Einhorn. In der sehr verbreiteten Alexandersage ist es ein mächtiger Greif, der Alexander den Großen nach seinem Tod hinauf in den Himmel trägt. Die Urform des Greifen haben wir in dem altsemitischen Krb bzw. Kerub zu sehen, aus dem im Judentum der Cherub wurde, eine der ältesten Darstellungen mythischer Tiere, die wir kennen. Die ursprünglichen ka-ribu waren machtvolle Schutzfiguren, die überall im Nahen und Mittleren Osten gefunden werden, das älteste sumerische Zeugnis ist rund 6000 Jahre alt. Mit ihnen stehen die riesigen assyrischen Kreaturen in Zusammenhang, mit geflügelten Körpern von Löwen, Adlern, Stieren, Sphinxen und menschlichen Gesichtern, die allerorten die Portale der Tempel flankierten.

      Kein Zweifel: diese Wesen fungierten als Boten des Himmels, sie waren Gottesboten oder Engel, aus denen sich erst später die voll vermenschlichten Engel entwickelten. Es waren heilige Wesen, die sich lobpreisend im unmittelbaren Umkreis Gottes aufhielten und vielleicht auch menschlichen Königen oder Priestern Beistand leisteten. Aber anders als der Greif vereinigte der altsemitische Kerub neben dem Löwen und dem Adler auch den Stier und den Menschen in seiner Natur, vor allem der Kopf wurde immer als Menschenkopf abgebildet mit langem geflochtenem Bart nach assyrischer Mode. Löwe, Adler, Stier und Mensch, dargestellt im Bilde der vier Tierkreiszeichen Löwe, Skorpion, Stier und Wassermann, wurden von den sternenkundigen Eingeweihten Babyloniens als astrale Urgestalten geschaut, die den ganzen Tierkreis trugen, sozusagen die vier Wächter des Himmels. Noch der jüdische Prophet Hesekiel sieht sie in einer Vision als mächtige Cherubim, die in flammender Wolke vom Himmel herabkommen: „Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie vier Menschen (…) Ihre Angesichter waren vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem Löwen bei allen vieren und zur linken Seite gleich einem Stier bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei allen vieren.“ (Hes.1/5-10)

      Sie tauchen noch ein zweites Mal in der Bibel auf: in der Weltvision des Johannes als die vier göttlichen Urgeister, die vor dem Thron Gottes stehen: „Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich einem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten, voller Augen vorn und hinten. Und die erste Gestalt war gleich einem Löwen, die zweite Gestalt war gleich einem Stier, und die dritte hatte ein Antlitz wie ein Mensch, und die vierte Gestalt war gleich einem fliegenden Adler.“ (Off. Joh. 4/7-8) In den „heiligen Tieren“ der Assyrer und Babylonier sowie in den „Engeltieren“ des Judentums haben wir wohl den Ursprung des Greifen zu sehen. Er ist ein Himmelswesen, den mächtigen Cherubim vergleichbar, und so nimmt es nicht Wunder, dass Dante in seiner Göttlichen Komödie die Beatrice auf einem von Greifen gezogenen Wagen vom Himmel herniederkommen sieht:

       Und einen Wagen sah ich sie umringen,

       Den auf zwei Rädern stolz und wundersam

       Ein Greif am Halse zog, wohin sie gingen.24

      Alle diese Belege weisen darauf hin, dass wir den Greifen als ein spirituelles Symbol zu betrachten haben: Himmelstier und Himmelsbote, eine Verkörperung göttlicher Transzendenz, zuweilen auch ein Christussymbol. Dem steht übrigens nicht entgegen, dass es ein Grimm'sches Volksmärchen über den „Vogel Greif“ gibt, in dem dieser als ein christenfressendes Ungeheuer dargestellt wird (Kinder- und Hausmärchen Nr. 165). Aber die Grimm'schen Märchen stammen ja aus dem späten Mittelalter, als der esoterische Gehalt der Ursymbole längst verblasst war.

       Die Sphinx

      Eigentlich müsste es heißen: der Sphinx; denn dies Wesen wurde bei den Ägyptern immer nur männlich dargestellt. Die älteste bekannte Darstellung eines Sphinxwesens, eines geflügelten Löwen mit Menschenantlitz, ist der Sphinx von Gizeh mit dem Gesicht des Pharao Chefren. Bescheiden ruht er zu Füßen der gewaltigen Pyramiden, 73 Meter lang und 20 Meter hoch, aber wer diesem steinernen Königslöwen in das seltsame, zerschlagene Antlitz schaute, dem wird sie zu einem Urweltriesen, der Staunen erweckt, mit einem unheimlichrätselvollen Gesicht und einem in endlose Ferne gerichteten Blick. Die weibliche Form erhielt das Fabelwesen erst in Syrien, und von dort aus erfolgte die Verbreitung nach Kreta und Griechenland, wo sie zumeist rein ornamental verwendet wurde, zum Beispiel als Bekrönung von Grabstelen oder als Weihgeschenk. Die griechische Mythologie nennt die Sphinx als Tochter des Drachen Typhon und des Ungeheuers Echidna; sie saß im Auftrag der Göttin Hera vor einem der Tore Thebens und stellte jedem Vorübergehenden das Menschen-Rätsel („Was geht zuerst auf vier, dann auf zwei und zuletzt auf drei Beinen?“), wobei sie alle tötete, die es nicht zu lösen wussten. Als Ödipus die Lösung wusste, stürzte sich das Untier in einen Abgrund….

      Hier ist die Sphinx zu einem reinen Phantasiewesen verkommen; aber im frühen Ägyptertum finden wir noch etwas von der ursprünglichen Wahrbedeutung. Der Sphinx besitzt in erster Linie natürlich eine esoterische Bedeutung: er ist der Löwenvogel mit dem menschlichem Gesicht, der das geistig-göttliche Sonnenzentrum repräsentiert. Es handelt sich um ein Symbol für den göttlichen Sonnenlogos, und wenn dies Wesen die Züge des Pharao Chefren


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