Inselabenteuer. Von Schatzsuchern und Gestrandeten. Jonathan Swift
die äußerste Sorgfalt ein und brach in eine Tränenflut aus, als ob sie die baldigen Ereignisse geahnt hätte; der Knabe trug mich in der Schachtel ungefähr eine halbe Stunde weit von dem Palaste an das Meerufer. Dort befahl ich ihm, mich niederzusetzen, zog ein Schiebefenster auf und warf manchen sehnsuchtsvollen, melancholischen Blick auf die Fluten. Ich befand mich ja nicht wohl und sagte deshalb dem Pagen, ich wünsche in meiner Hängematte ein wenig zu schlafen, was mir, wie ich hoffe, gut bekommen werde. Ich ging hinein, und der Knabe ließ das Schiebefenster herunter, um die Kälte abzuhalten. Gleich darauf schlief ich ein. Wahrscheinlich dachte der Page, ein Unfall könne sich nicht ereignen, und ging fort, um unter den Felsen Vogeleier zu suchen. Ich sah nämlich aus meinem Fenster, wie er unter den Klippen suchte und ein- oder zweimal etwas aufnahm. Genug, ich wurde plötzlich durch ein heftiges Ziehen an dem Ringe erweckt, der an dem Deckel meiner Schachtel, um sie bequemer transportieren zu können, befestigt war. Ich fühlte, wie meine Schachtel sehr hoch in die Luft emporgehoben und dann mit wunderbarer Schnelligkeit in horizontaler Richtung weiter fortgetragen wurde. Die erste Erschütterung hätte mich beinahe aus meiner Hängematte geschleudert, allein die spätere Bewegung war ziemlich sanft. Ich schrie mehreremal so laut wie möglich, allein dies half mir nichts; ich sah durch meine Fenster, aber erblickte nichts als Himmel und Wolken. Über mir vernahm ich ein Geräusch, wie wenn Flügel geschwungen würden, und so begann ich meinen furchtbaren Zustand zu erkennen. Ein Adler hatte den Strick im Ringe meiner Schachtel mit dem Schnabel ergriffen, um sie, wie eine Schildkröte in der Schale, auf einen Felsen fallen zu lassen und dann meinen Leichnam herauszunehmen und zu verschlingen. Die Spürkraft und der Geruchssinn befähigt ihn nämlich, auf große Entfernung seine Beute zu wittern, wäre diese auch noch besser verborgen, als es bei mir in einem zwei Zoll dicken Bretterhause der Fall war.
Bald darauf bemerkte ich, wie das Geräusch und das Flügelschlagen sich vermehrte; zugleich wurde meine Schachtel hin und her geschüttelt, wie eine Wetterfahne an einem stürmischen Tage. Auch hörte ich, wie der Adler mehrere Püffe und Stöße erhielt (ich glaube nämlich, mit Sicherheit behaupten zu können, daß ein solches Tier meine Schachtel im Schnabel fortschleppte), und dann fühlte ich plötzlich, wie ich in senkrechter Richtung eine Minute lang so schnell herabfiel, daß mir der Atem beinahe verging. Mein Fall wurde durch ein furchtbares Rauschen beendet, das lauter in meinen Ohren schallte als der Wasserfall des Niagara; darauf befand ich mich eine weitere Minute lang in vollkommener Finsternis, und endlich stieg meine Schachtel so hoch, daß ich das Licht am obern Teile der Fenster erblicken konnte. Jetzt erkannte ich, daß ich in das Meer gefallen sein müsse. Meine Schachtel schwamm wegen meines Körpergewichts, wegen der Gegenstände, die sie enthielt, und wegen der breiten eisernen Platten, die zur Verstärkung an den vier Ecken des Bodens und der Seite angebracht waren, fünf Fuß tief im Wasser. Ich vermutete damals und glaube noch jetzt, der Adler, der mit meiner Schachtel davonflog, wurde von zwei oder drei anderen verfolgt und gezwungen, mich fallen zu lassen, während er sich gegen die anderen verteidigte, die seine Beute zu teilen hofften. Die am Boden der Schachtel befestigten eisernen Platten, die von der stärksten Art waren, hielten sie während des Fallens im Gleichgewicht und verhinderten, daß sie vom Wasser zerschellt wurde. Jede Fuge war sehr fest eingelassen, und die Tür bewegte sich nicht auf Angeln, sondern wurde wie ein Schiebefenster auf und nieder gezogen. Hierdurch war mein Zimmer so dicht verschlossen, daß nur wenig Wasser eindringen konnte. Ich gelangte nur mit Schwierigkeit aus meiner Hängematte, nachdem ich gewagt hatte, den früher erwähnten Schieber an der Decke zurückzuziehen, um ein wenig frische Luft einzulassen, durch deren Mangel ich beinahe erstickte.
Wie oft wünschte ich damals, wieder mit meiner teuren Glumdalclitch zusammen zu sein, von der ich in einer einzigen Stunde so weit getrennt worden war! Auch muß ich aufrichtig gestehen, daß ich inmitten meines Unglücks nicht unterlassen konnte, meine arme Wärterin und den Schmerz zu beklagen, den sie wegen meines Verlustes, wegen des Mißfallens der Königin und wegen der Vereitlung günstiger Aussichten erleiden mußte. Vielleicht sind wenig Reisende in solcher Not wie ich gewesen. Ich erwartete jeden Augenblick, meine Schachtel werde zertrümmert oder wenigstens von dem ersten heftigen Windstoß oder der ersten Woge umgeworfen werden. Wurde eine einzige Fensterscheibe zerbrochen, so wäre mein augenblicklicher Tod unvermeidlich gewesen. Nur die starken äußeren Metallstäbe, die, um Unglücksfälle auf Reisen zu verhindern, vor den Fenstern befestigt waren, konnten sie schützen. Einige Male bemerkte ich, wie das Wasser durch mehrere Ritzen, die jedoch nicht beträchtlich waren, eindrang, und ich versuchte diese so gut wie möglich zu verstopfen. Es war mir nicht möglich, die Decke meines Zimmers in die Höhe zu heben; ich versuchte dies, um mich oben darauf zu setzen; denn dort hätte ich mein Leben noch einige Stunden länger erhalten können, als wenn ich unten gleichsam in Haft geblieben wäre. Entging ich auch zwei oder drei Tage lang allen Gefahren, so konnte ich doch nichts erwarten als einen elenden Tod durch Kälte und Hunger. Vier Stunden lang befand ich mich in diesen Umständen und dachte, ein jeder Augenblick werde mein letzter sein; ich hegte sogar diesen Wunsch.
Ich habe dem Leser schon berichtet, daß zwei starke Krampen an jener Seite meiner Schachtel, wo sich keine Fenster befanden, befestigt waren, durch die der Bediente, der mich zu Pferde trug, einen ledernen Riemen zog, den er dann um seinen Leib schnallte. Als ich mich nun in diesem trostlosen Zustande befand, hörte ich oder glaubte zu hören, wie etwas an der Seite meiner Schachtel, wo die Krampen befestigt waren, schabte. Ich kam auf den Gedanken, die Schachtel sei ins Schlepptau genommen und werde so durch das Meer gezogen. Bisweilen fühlte ich nämlich einen Ruck, durch den die Wogen bis an die Höhe meiner Fenster schlugen, so daß ich beinahe im Dunkeln blieb. Dieser Umstand weckte bei mir einige schwache Hoffnung, ich würde errettet werden, obgleich ich mir nicht einbilden konnte, wie die Sache vor sich ging. Ich wagte einen meiner Stühle loszuschrauben, die immer auf dem Fußboden befestigt waren; dann brachte ich es mit vieler Mühe dahin, daß ich ihn unter dem Schieber wieder festschraubte, den ich stets selbst geöffnet hatte, stieg auf den Stuhl, brachte meinen Mund so nahe wie möglich an das Loch und rief endlich in allen Sprachen, die ich verstand, laut um Hilfe. Dann befestigte ich mein Schnupftuch an den Stock, den ich zu tragen pflegte, steckte ihn durch das Loch und schwenkte ihn mehreremal in der Luft, um, im Falle ein Schiff oder Boot in der Nähe wäre, den Matrosen ein Zeichen zu geben, daß ein unglücklicher Mensch in der Schachtel eingeschlossen sei.
Alles, was ich tat, blieb erfolglos; ich fühlte jedoch, wie meine Schachtel sich weiterbewegte. Nach einer Stunde stieß die Seite, wo die Klammern waren, gegen etwas Hartes. Ich besorgte, dies sei ein Felsen, denn ich wurde heftiger als jemals erschüttert. Dann hörte ich auf dem Deckel meines Zimmers ein deutliches, wie von einem Taue herrührendes Geräusch und vernahm das Schaben, als es durch den Ring gezogen wurde. Darauf wurde ich allmählich um vier Fuß höher emporgehoben. Ich steckte daher noch einmal meinen Stock mit dem Schnupftuche heraus und rief um Hilfe, bis ich beinahe heiser war. Als Antwort vernahm ich ein dreimaliges lautes Hurrarufen, das mich in solches Entzücken versetzte, wie es nur jemand begreifen kann, der ähnliches gefühlt hat. Jetzt hörte ich auch ein Getrampel über meinem Haupte, und jemand rief auf englisch mit lauter Stimme durch das Loch: Wenn jemand unten ist, so mag er‘s sagen. Ich antwortete: Ich sei ein Engländer, der durch Mißgeschick in das größte Unglück geriet, das jemals ein Mensch ertragen habe; ich bäte bei allem, was heilig sei, mich aus dem Loch, worin ich mich befinde, zu befreien. Die Stimme erwiderte: Ich sei in Sicherheit, denn meine Schachtel sei an einem Schiffe befestigt, der Zimmermann werde sogleich kommen und ein Loch in den Deckel sägen, das groß genug sein werde, mich herauszuziehen. Da sagte ich, dieses sei nutzlos und werde zu viel Zeit kosten; man brauche nichts weiter zu tun, als daß einer der Schiffsmannschaft seinen Finger in den Ring stecke, die Schachtel so in das Schiff bringe und in der Kajüte des Kapitäns niedersetze. – Als nun die Matrosen von mir diese sonderbaren Worte hörten, glaubten einige, ich sei verrückt, und andere lachten laut auf. Es war mir auch wirklich nicht eingefallen, daß ich mich unter Leuten meines Wuchses und meiner Stärke befinde. Der Zimmermann kam, sägte in wenigen Minuten einen ungefähr vier Quadratfuß breiten Durchgang in den Deckel und ließ eine kleine Leiter hinunter, die ich bestieg; von dort wurde ich in elendem Zustande auf das Schiff gebracht.
Die Matrosen staunten sämtlich und legten mir eine Menge Fragen vor, die ich jedoch keine Lust hatte zu beantworten. Ich staunte gleichfalls über den Anblick so vieler Zwerge, denn dafür hielt ich sie, weil meine Augen an die ungeheuren Dinge, die ich verlassen, so lange gewöhnt gewesen