Inselabenteuer. Von Schatzsuchern und Gestrandeten. Jonathan Swift

Inselabenteuer. Von Schatzsuchern und Gestrandeten - Jonathan Swift


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Sechs von der Mannschaft, unter denen ich mich befand, setzten das Boot aus und suchten vom Schiff und dem Felsenriff loszukommen. Wir ruderten nach meiner Berechnung drei Seemeilen, bis es nicht mehr möglich war, zu rudern, da unsere Kräfte durch fortwährende Anstrengung im Schiffe bereits aufgerieben waren. Wir gaben uns deshalb den Wogen preis, und nach ungefähr einer halben Stunde wurde das Boot durch einen plötzlichen Windstoß von Norden her umgeworfen. Ich kann nicht berichten, was aus meinen Gefährten im Boot und der Schiffsmannschaft geworden ist, vermute jedoch, daß sie ertranken. Was mich betrifft, so schwamm ich auf gut Glück, wohin Wogen und Flut mich trieben. Oft ließ ich die Füße herabhängen, konnte aber keinen Grund fühlen; als ich beinahe verloren war, denn ich konnte nicht länger mit den Wellen ringen, fand ich endlich festen Boden; zugleich ließ auch der Sturm nach. Der Strand war so flach, daß ich beinahe eine Meile gehen mußte, bevor ich um acht Uhr abends, wie ich glaube, auf das trockene Ufer gelangte. Alsdann ging ich noch eine halbe Meile, konnte aber keine Spur von Einwohnern und Wohnungen entdecken. Zuletzt wurde ich so schwach, daß ich gar nichts mehr bemerkte. Da ich sehr müde und das Wetter heiß war, ich auch, als ich das Schiff verließ, eine halbe Pinte Branntwein getrunken hatte, fühlte ich Neigung zum Schlaf. Ich legte mich auf das Gras, das mir kurz und weich zu sein schien, und schlief dann fester als jemals in meinem Leben, soviel ich weiß und wie ich glaube, an die neun Stunden. Als ich erwachte, war der Tag angebrochen. Ich versuchte aufzustehen, konnte mich aber nicht bewegen; während ich auf dem Rücken lag, bemerkte ich, daß meine Arme und Beine festgebunden an dem Boden hafteten. Dasselbe war mit meinen sehr langen und dicken Haaren der Fall. Auch fühlte ich mehrere kleine Binden am ganzen Leibe von den Achselhöhlen bis zu den Schenkeln. Ich konnte nur aufwärts blicken; die Sonne war sehr heiß, und ihr Licht blendete meine Augen. Ich vernahm ein wirres Geräusch in meiner Nähe; in der Stellung jedoch, die ich einnahm, konnte ich nur den Himmel sehen. Mittlerweile fühlte ich, wie sich etwas auf meinem linken Schenkel bewegte; irgendein Geschöpf rückte leise vorwärts und kam über meine Brust bis fast an mein Kinn; ich erkannte in diesem eine Menschengestalt von etwa sechs Zoll Höhe, mit Bogen und Pfeilen in der Hand und mit einem Köcher auf dem Rücken. Zugleich fühlte ich, daß wenigstens noch vierzig derselben Menschengattung dem ersten folgten. Ich war äußerst erstaunt und brüllte so laut, daß sie sämtlich erschrocken fortliefen; einige, wie ich nachher hörte, beschädigten sich durch den Fall, als sie von meiner Seite herabspringen wollten. Sie kamen aber bald zurück; einer von ihnen wagte sich so weit, daß er vollkommen in mein Gesicht blicken konnte, erhob voll Verwunderung seine Hände und Augen und rief mit schallender und deutlicher Stimme: »Hekinah Degul.« Die übrigen wiederholten dieselben Worte mehreremal; ich konnte damals aber ihren Sinn noch nicht verstehen.

      Der Leser wird wohl verstehen, daß ich mich in keiner bequemen Lage befand; ich suchte loszukommen und hatte zuletzt das Glück, die Stricke zu zerreißen oder die Pfähle abzubrechen, woran mein linker Arm befestigt war. Als ich diesen nun zum Gesicht erhob, bemerkte ich die Art, wie man mich gebunden hatte. Durch einen heftigen Ruck, der mir viel Schmerz verursachte, machte ich die Bande, die meine Haare auf der linken Seite hielten, etwas locker, so daß ich imstande war, meinen Kopf um zwei Zoll zu drehen; doch liefen die Geschöpfe noch einmal fort, ehe ich eins davon ergreifen konnte, worauf ein sehr lauter Ruf von mehreren Stimmen entstand, der aber schnell wieder verhallte. Hierauf hörte ich, wie einer »Tolgo Phonac« rief. Sogleich trafen mehr als hundert Pfeile meine linke Hand und prickelten mich wie Nadeln. Außerdem wurde eine andere Salve in die Luft, so wie wir die Bomben in Europa schleudern, geschossen. Ich glaube, eine Menge Pfeile fiel auf meinen Körper, ich habe sie aber nicht gefühlt. Einige richteten ihre Geschosse auf mein Gesicht, das ich sogleich mit der linken Hand bedeckte. Als dieser Pfeilschauer vorüber war, begann ich aus Gram und wegen meiner Schmerzen zu seufzen; ich versuchte wieder, mich loszumachen, und erhielt noch eine zweite und größere Salve; einige suchten mit Speeren in meine Seite zu stechen; zum Glück aber trug ich ein Wams von Büffelleder, das sie nicht durchbohren konnten. Ich hielt es deshalb für das klügste, regungslos liegenzubleiben, bis die Nacht einbräche. Da meine linke Hand bereits von den Banden gelöst war, konnte ich mich sehr leicht gänzlich befreien, und was die Einwohner betraf, so hegte ich die Überzeugung, ihrem größten Heere vollkommen gewachsen zu sein, wenn alle Soldaten von derselben Größe wären wie jenes Geschöpf, das ich gesehen. Allein das Geschick hatte mir ein anderes Los beschieden. Als die Volksmasse meine Ruhe sah, gab sie mir keine weitere Salve von Pfeilen; aus dem Lärm, den ich vernahm, konnte ich jedoch den Schluß ziehen, daß ihre Anzahl sich vermehrte. Auch vernahm ich, wie man in Entfernung von vier Ellen, meinem rechten Ohr gegenüber, ungefähr eine Stunde lang in der Art polterte, wie wenn dort Arbeiter beschäftigt wären. Deshalb drehte ich den Kopf nach der Seite hin, so gut es die Stricke und Pfähle erlaubten, und erblickte ein ungefähr anderthalb Fuß hohes Gerüst, das, mit zwei oder drei Leitern versehen, vier jener Eingeborenen tragen konnte. Von dort aus hielt eins der Geschöpfe, wie es schien ein Mann von Stande, eine lange an mich gerichtete Rede, wovon ich aber keine Silbe verstand. Jedoch muß ich noch erwähnen, daß jene Hauptperson, bevor sie ihre Rede begann, dreimal ausrief: »Langro dehul san« (diese sowie auch die früheren Worte wurden mir später wiederholt erklärt). Hierauf traten ungefähr fünfzig Einwohner näher, welche die Stricke an der linken Seite meines Kopfes abschnitten, so daß ich diesen nach rechts hin drehen und die Gestalt sowie die Handlung des Diminutivmenschen, der reden wollte, beobachten konnte. Er war ein Mann von mittleren Jahren und schlanker als die andern drei, die ihn begleiteten. Einer davon war ein Page, der ihm die Schleppe trug und etwas länger als mein Mittelfinger zu sein schien. Die anderen beiden standen an den Seiten der hohen Person, um sie zu halten. Diese spielte vollkommen die Rolle eines Redners, und ich konnte manche Perioden der Drohung, eine andere der Versprechung, des Mitleids und der Höflichkeit unterscheiden. Ich antwortete in wenig Worten, jedoch in der untertänigsten Weise. Die linke Hand und die Augen erhob ich zur Sonne, als wollte ich sie zum Zeugen anrufen. Da ich nun aber mehrere Stunden, bevor ich das Schiff verließ, nur einige sehr schmale Bissen gegessen hatte, war ich jetzt beinahe verhungert; die Ansprüche der Natur wirkten deshalb mit solcher Stärke, daß ich es nicht unterlassen konnte, meine Ungeduld, vielleicht gegen die strengen Regeln des Anstandes, dadurch zu zeigen, daß ich meinen Finger mehreremal in den Mund steckte, um anzudeuten, ich müsse durchaus Nahrung zu mir nehmen. Der Hurgo (so nannten die anderen, wie ich nachher erfuhr, den erwähnten vornehmen Herrn) verstand mich vollkommen. Er stieg von dem Gerüst herab und gab Befehl, mehrere Leitern an meine Seite zu stellen; ungefähr hundert Einwohner stiegen hinauf und gingen mit Körben voll Fleisch, das auf des Königs Befehl nach der ersten Nachricht von meiner Ankunft hierher gesandt worden war, auf meinen Mund zu. Ich erkannte dies als das Fleisch verschiedener Tiere, konnte es aber nach dem Geschmack nicht unterscheiden. Mir wurden Keulen und Rippenstücke, von der Gestalt der Hammelkeulen und Rippen, gebracht; sie waren sehr schmackhaft gekocht, aber nur von der Größe eines Lerchenflügels. Zwei oder drei steckte ich auf einmal mit drei runden Broten, so dick wie die Musketenkugeln, in den Mund. Jene Geschöpfe versahen mich nun so schnell wie möglich mit Nahrung und äußerten dabei mehr als tausendmal ihr Erstaunen über meine Größe und meinen Hunger. Darauf gab ich ein anderes Zeichen, daß ich zu trinken wünsche. Sie hatten durch meinen Appetit bereits erkannt, eine kleine Quantität würde mir nicht genügen, und da sie nun sehr verständig waren, zogen sie mit vieler Geschicklichkeit eines ihrer größten Fässer zu mir hinauf, rollten es auf meine Hand und stießen den Boden ein; denn es enthielt keine halbe Pinte und schmeckte beinahe wie der sogenannte Petit Bourgogne, aber köstlicher. Alsdann brachte man mir ein zweites Faß, das ich auf dieselbe Weise leerte; ich gab durch Zeichen zu verstehen, man möge mir noch mehr bringen, aber leider war nichts mehr vorhanden. Als ich diese Wunder vollbrachte, stießen die erwähnten Geschöpfe ein lautes Geschrei aus, tanzten auf meiner Brust und wiederholten mehreremal, wie früher, »Hekinah Degul«. Dann gaben sie mir durch Zeichen zu verstehen, ich solle die leeren Fässer fortwerfen. Zuerst aber hatten sie den Umstehenden erklärt, auf ihrer Hut zu sein. Als die Fässer nun durch die Luft flogen, ertönte ein abermaliges Freudengeschrei.

      Ich muß gestehen, daß ich wohl in Versuchung kam, dreißig oder vierzig von jenen Herren, die auf meiner Brust herumspazierten und die ich packen konnte, mit kurzem Prozeß auf den Boden zu werfen. Allein die Erinnerung meiner soeben überstandenen Plage, wahrscheinlich noch nicht die schlimmste Peinigung, die in der Macht jener Geschöpfe lag, und dann auch mein Ehrenwort, ruhig zu bleiben (denn so deutete ich mir meine untertänigen


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