Die Macht der Meinung. Otto W. Bringer
in menschlichen Gesellschaften. Im Laufe der Zeit änderten sich die Prämissen. Im antiken Griechenland waren männliche Tugenden erstrebenswert. Der Mann vortrefflich, gerühmt und geehrt, ein Held. In Homers «Odyssee» ist Klugheit eine gute Idee, auch wenn sie auf einer Lüge beruhte. Aber Erfolg brachte und Leben rettete. Als die Griechen die Stadt Troja vergeblich belagerten, griffen sie zu einer List. Schoben unter einem Vorwand ein hölzernes Pferd in die Stadt. Im Bauch des Pferdes versteckte Soldaten überraschten die Verteidiger und besiegten sie rasch.
Auf der Heimfahrt landeten die Griechen auf einer Insel und wurden sofort verhaftet, viele getötet. Odysseus überredete Polyphem, den einäugigen Herrscher der Insel, einen Krug köstlichen Weins zu leeren. Dem Betrunkenen konnte er dann leicht das sehende Auge ausstechen. Sodass er erblindete, machtlos geworden. Die Griechen von der Insel in Richtung Heimat fliehen konnten.
Seit Platon gelten nicht heldische, sondern zivile Tugenden, z. B. die der Gerechtigkeit, ethischen Verhaltens. Platons Schüler Aristoteles schrieb:
«Der aber ist der Allerbeste, der selber alles bedacht hat, der wohl überlegt, was später und bis zum Ende das Bessere ist. Edel ist auch jener, der einem gut Ratenden vertraut. Wer aber weder selber denkt, noch auf einen Anderen hört und dessen Rat im Herzen bewegt, der ist ein ganz unnützer Mann.»
In Platons Ideenlehre spielt die Idee des Guten ontologisch eine Sonderrolle. Sie rangiert über allen anderen Ideen, die ihr unterzuordnen sind. Aber auch diese seien Schöpfungen des menschlichen Geistes und deshalb wertvoll. Zum Beispiel Ideen zu Staatsführung, Gesellschaftsordnung, zu persönlichem Verhalten, zu Tätigkeiten aller Art.
Platon hatte seine wichtige Ideenlehre nur im Dialog mit Kollegen und Schülern diskutiert. In seinen Augen die einzig taugliche Art des Meinungsaustausches. Später von Schülern aufgeschrieben und kommentiert. Aristoteles, sein berühmtester, entwickelte Platons Ideenlehre zu einer eigenen Philosophie weiter. Veröffentlicht in Schriften und Büchern. Laut Aristoteles ist das Gute im Menschen angelegt. Damit sei der ethische Anspruch verbunden, sich tugendhaft zu verhalten.
Tugenden beruhten auf Wissen. Sie müssten, wie alles Wissen, immer wieder überprüft und mit neuen Erkenntnissen abgeglichen werden. Erst wenn zum Schluss feststeht, es ist gut gedacht, dürfe man die Konsequenzen daraus ziehen, Regeln und Gesetze werden lassen. Verbindlich für gedeihliches Zusammenleben von Menschen. Heute ist es im Grundsatz nicht anders. Nur üblich von Einfällen zu reden, Gedanken, Leitbildern, Erkenntnissen in Geistesund Naturwissenschaften.
Einsteins Relativitäts-Theorie zum Beispiel beweist, alles ist abhängig, nichts autonom. Selbst im Weltall hängt alles mit allem zusammen. Eines vom anderen abhängig. Schwarze Löcher inklusive. Stephen Hawking definierte sie als flüchtig, weil in ihnen hohe Temperaturen herrschen. Deshalb verdampfen sie und verschwinden im Weltraum. Die Frage bleibt: Wo sind sie geblieben?
Einstein und Hawking beide physikalische Genies. Und begabte Philosophen, also Freunde der Weisheit. Sie erklärten uns die Welt naturwissenschaftlich. Anders als die griechischen Philosophen Platon, Aristoteles, Sokrates, Pythagoras und viele andere noch. Deren Gedanken waren zu ihrer Zeit ebenso neu wie die Einsteins und Hawkings heute. Ihre Kollegen und Schüler diskutierten sie, bis jeder Wissensdurstige sie begriffen hatte. Einstein erklärte die Relativität von Zeit und Raum an einem Beispiel, das auch den Ungebildetsten überzeugt:
«Stellen Sie sich vor, Sie sitzen eine Minute allein neben einem heißen Ofen. Sie kommt Ihnen wie eine Stunde vor. Sitzen Sie aber mit einem hübschen Mädchen eine Minute neben demselben Ofen, glauben Sie, nur wenige Sekunden seien vergangen.»
«Karl Marx», ein Philosoph des 19. Jahrhunderts entwickelte nach langem Studium realer Verhältnisse in Volkswirtschaften die Idee einer sozialen, also klassenlosen Gesellschaft. Ein Gegenentwurf zur bisherigen Realität. In der Christentum und Adel seit Jahrhunderten nicht nur die absolute Herrschaft besaßen. Auch bessere Chancen, Vermögen anzuhäufen. Die beginnende Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachten die ersten Unruhen. Das bisherige Ordnungssystem funktionierte nicht mehr, als sich im traditionellen Handwerk alles änderte.
Der Engländer Cartwright erfand 1786 den mechanischen Webstuhl. Neu gegründete Produktionsstätten lieferten schon bald Stoffe billiger aufs europäische Festland. Sodass heimische Weber keine Aufträge mehr erhielten. Nicht lange und erste deutsche Hersteller kauften moderne Maschinen, um ebenfalls günstiger produzieren und anbieten zu können. Jetzt ging es um den Preis wie heute. Immer mehr Menschen waren entbehrlich und somit arbeitslos.
Verdienten kein Geld, ihre Familien zu ernähren. Sie protestierten, aber es half ihnen nicht. Auch die Folgen der Digitalisierung sind noch nicht absehbar. Millionen Arbeitsloser von Skeptikern prognostiziert. Optimisten prophezeien mehr neue andere Arbeitsplätze. Was das für den einzelnen bedeutet, weiß nur die Angst.
Gerhart Hauptmanns soziales Drama «Die Weber» eine Reaktion auf den Weberaufstand 1844 in seiner Heimat Schlesien. Höhepunkt vieler Aufstände in den Jahrzehnten zuvor. Das Drama schildert realistisch Schicksale arbeitsloser Weber, Aufstände und Schinderei. Hunger und Tod die Themen. Die Uraufführung 1892 vom Polizeipräsidenten Berlins verboten. Es sei eine sozialdemokratische Unterwanderung bestehender Gesetze. Man verhandelte zwei Jahre lang im Reichstag über Pressefreiheit und ließ schließlich 1894 die Aufführung im «Deutschen Theater» Berlin zu.
Auch Heinrich Heine, den jüdischen Poeten, ließ dieses Weberschicksal nicht ruhen. Schrieb aus seinem Pariser Exil, das er Matratzengruft nannte, ein Gedicht. Hier zwei Strophen, die die damalige Stimmung ausdrücken:
«Die schlesischen Weber
Im düstern Auge keine Träne -
wir sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne -
Deutschland, wir weben dein Leichentuch-
wir weben hinein den dreifachen Fluch -
wir weben, wir weben.
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht -
wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch -
wir weben hinein den dreifachen Fluch -
wir weben, wir weben.»
Nicht nur die Betroffenen reagieren mit Protesten.
Auch Künstler, die immer schon auf der Seite der Schwächeren standen. Bis heute hat ihre Sprache Macht. Mehr als die normaler Menschen in einer Gesellschaft. Auch die Sprache der Musik, von Farben und Symbolen auf Bildern wird verstanden. »Picassos» 3,5 mal 8 Meter großes Gemälde «Guernica», eindrucksvolle Anklage gegen Krieg und Massenmord. Anlässlich des 1. Weltfriedens-Kongresses erfand er die «Friedenstaube». Seit 1919 ist sie das aktuelle Symbol des Friedens. «Josef Beuys», Maler, Bildhauer und Professor an der Düsseldorfer Akademie fand mit seiner Kunst in den 60er und 70er Jahren internationales Echo. Er definierte Kunst als Aktion. Heute als «Performens» en vogue. Nur so könne sie sich in der modernen Welt Aufmerksamkeit verschaffen. Botschaften verkünden. Notwendige Änderungen in Staat und Gesellschaft anmahnen. Er empfahl, mit dem «Dalai Lama» ein Gespräch über Grundfragen des Menschen zu führen.
Zurück zu Karl Marx. Die Aufstände der Weber in Deutschland waren ihm willkommene Vorlagen für seine Schlussfolgerung: Fortschritt ist Rückschritt. Die Formel eindringlich, von zwingender Logik geradezu: «Maschinen schaffen Arbeitslosigkeit»
In seinem Hauptwerk «Das Kapital» bewies er es mit zahlreichen Beispielen. Kritisierte die kapitalistische Gesellschaft mit ihren negativen Auswirkungen für die Arbeiterschaft. Die Produktionsweise sei die einer Klassengesellschaft. Kapitalisten vermehrten ihr Privateigentum an den Produktionsmitteln, indem sie Lohnabhängige für sich arbeiten lassen. So akkumuliere sich der Reichtum in Form von Kapital. Während Arbeiter dauerhaft ausgeschlossen bleiben.
Karl Marx kritisierte auch die politische Herrschaft. Sie stelle die Staatsgewalt in den Dienst des Kapitals. Und