Flor Peeters (1903-1986). Clemens Morgenthaler
Aufgabe. Nun wünsche ich den Leserinnen und Lesern ein freudiges Eintauchen in die Welt von Flor Peeters.
Kindheit und Jugend
Franciscus Florentius Peeters wurde am 4. Juli 1903 in Tielen, einem kleinen flämischen Dorf östlich von Antwerpen (Region Kempen), als jüngstes Kind einer elfköpfigen Familie geboren. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater, Ludovicus Peeters (1839–1910) war Postmeister und versah in der Heimatpfarrei den Organisten- und Küsterdienst. Er war seit 1887 in dritter Ehe mit Maria Elisabeth Deckers (1864–1935) verheiratet. Seine ersten beiden Frauen waren früh verstorben. Aus diesen Ehen gingen insgesamt vier Kinder hervor.1 Flor Peeters hatte somit zu seinen acht leiblichen Geschwistern noch vier Halbgeschwister, die zum Zeitpunkt seiner Geburt allerdings nicht mehr im Haushalt lebten. Sein leiblicher Bruder Petrus Emilius (1889–1978), genannt »Emiel«, wurde wie der Vater Postmeister und Küster-Organist in Tielen und setzte damit die Familientradition fort, während eine seiner Schwestern (Rosalia Mathilde Magdalena) ins Kloster ging. Der Vater starb 1910, als Flor gerade einmal sieben Jahre alt war. Nach dem frühen Tod des Vaters erzog die Mutter die neun Kinder allein. Trotz der materiell eher einfachen Lebensumstände spielte die Musik, und hier insbesondere die Kirchenmusik, in der Familie eine bedeutende Rolle. So spielten alle Familienmitglieder ein Instrument (Violine, Blasinstrumente, Klavier, Harmonium). Auch das gemeinsame Singen wurde gerne und ausgiebig gepflegt. Bereits 1911, mit acht Jahren, spielte Flor unter der Aufsicht seines Bruders Emiel zum ersten Mal im Gottesdienst die Orgel der Pfarrkirche seines Heimatdorfes Tielen, das zu dieser Zeit ungefähr 1100 Einwohner zählte. Fortan vertrat er öfters seinen Bruder Emiel, der auch als erster sein Talent entdeckt hatte, beim gottesdienstlichen Orgelspiel. Auch der Mutter war schon früh die außergewöhnliche musikalische Begabung ihres jüngsten Kindes nicht verborgen geblieben und sie unterstützte diese mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. So hatte der junge Flor Peeters schon in dieser Zeit die Möglichkeit, neben dem Klavier- und Orgelspiel, auch das Violinspiel zu erlernen. Von der engen Bindung an seine Mutter, geprägt von großer Dankbarkeit, zeugt auch die Widmung der »Elegie« op. 38 für Orgel, die er 1935 am Abend ihres Todes komponierte und die den Schmerz über ihren Verlust eindrücklich zum Klingen bringt. Die gläubige Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits wird durch ein Choral-Zitat aus dem gregorianischen Requiem »In Paradisum« (»Zum Paradies mögen Engel dich geleiten«) ausgedrückt. Hier berühren sich zwei wesentliche Ebenen, die für das weitere Leben von Flor Peeters bestimmend sein sollten, nämlich der christliche Glaube und die Musik. Die Synthese aus beiden Bereichen stellt die Kirchenmusik dar, die fortan sein Leben wesentlich und dauerhaft prägen sollte.
Schon früh zeigte der junge Flor Peeters eine große Aufgeschlossenheit allen musikalischen Dingen und Erscheinungsformen gegenüber. So besuchte er beispielsweise oft die Proben der heimatlichen Blaskapelle und machte sich damit schon früh mit den charakteristischen Möglichkeiten und Stärken der jeweiligen Blasinstrumente vertraut. Daher rührt wohl auch sein besonderes und lebenslanges Interesse an Blechblasinstrumenten wie Trompete und Posaune, welche er in späteren Werken gerne und wirkungsvoll einsetzen sollte (»Entrata festiva« op. 93, »Sonate für Trompete und Klavier « op. 51, »Suite für vier Posaunen« op. 82, »Choral-Fantasie über ›Christ the Lord has risen‹« op. 101 für zwei Trompeten, zwei Posaunen und Orgel, »Canticum Gaudii« op. 118 für zwei Trompeten, zwei Posaunen und Orgel).
Ab dem zwölften Lebensjahr besuchte er das Gymnasium in Herentals, wo er beim Organisten des Kollegs neben Klavier- und Orgelunterricht auch Solfège-Unterricht erhielt. Auch hier vertrat er oft seinen Orgellehrer bei den verschiedensten Gottesdiensten und lernte so auf ganz selbstverständliche Weise die Liturgie der katholischen Kirche und ihre Erscheinungsformen kennen. Zudem hinterließ die Orgel der Hauptkirche St. Walburgis (40 Register, drei Manuale und Pedal) bei ihm einen nachhaltigen Eindruck.
Ab 1915 setzte er seine schulische Laufbahn am Institut Saint-Victor in Turnhout, wie Herentals eine Kleinstadt, fort. Hier blieb er bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Sein Lehrer in Orgel und Harmonielehre war mit Jozef Brandt ein Absolvent des renommierten Lemmens-Instituts für Kirchenmusik in Mechelen, der auch schon seinen Bruder Emiel unterrichtet hatte. Der junge Flor hatte zweimal in der Woche Unterricht in Klavier, Orgel, Harmonielehre und Begleitung des Gregorianischen Chorals. Zudem war er als Violinist Mitglied des Schulorchesters und spielte im Blasorchester verschiedene Instrumente. Im Chor sang der Knabe Flor Peeters als Sopranist mit. Nach dem Stimmbruch verfügte der groß gewachsene Jüngling mit dem lebendigen Gesichtsausdruck über eine wohlklingende tiefe Baritonstimme.2 Auch hier weiß sich der Verfasser dieser Zeilen als Bassbariton-Sänger mit dem Protagonisten dieses Buches in gleicher Stimmfach-Zugehörigkeit und sängerischer Eintracht verbunden. Der Unterricht bei Jef Brandt in Turnhout war eine hervorragende Vorbereitung auf das Studium am Lemmens-Institut, welches Peeters dann in vier statt in der Regelstudienzeit von acht Jahren absolvieren konnte. In Turnhout entstanden die ersten Kompositionen (Lieder, Motetten, Märsche für die Blaskapelle). Er hatte auch einige konzertante Auftritte als Pianist.3
Schon in dieser frühen Zeit seiner Jugend zeigte sich, dass der Dreiklang Glaube, Musik und eine tiefe Liebe und Verbundenheit zur reichen Kultur und Geschichte seiner flämischen Heimat stets die innere harmonische Grundlage bilden sollte, auf der sich dann später seine Entwicklung hin zu einem musikalischen Weltbürger ganz organisch vollziehen konnte. Diese sich dann bald frei entwickelnde »Lebensmelodie« hatte in der Geborgenheit seiner Heimat Flandern ihren festen Grund und Boden, was er in späteren Werken (»Variationen und Finale über ein altflämisches Lied« op. 20, »Vlaamsche Rhapsodie« op. 37) klingend zum Ausdruck bringen sollte. Seine spätere musikalische Universalität und Vielseitigkeit wurde schon in diesen frühen Jahren seines Lebens geprägt und gefördert.
1 Vgl. Guido Peeters, Raymond Schroyens, Allegro energico, Antwerpen 1991, S. 17.
2 Vgl. Peeters, Schroyens, Allegro energico, S. 23.
3 Vgl. John Hofmann, Flor Peeters – his life and his organ works, New York 1978, S. 10.
Studium
Im Jahr 1919 begann für Flor Peeters das Studium am Lemmens-Institut in Mechelen, nachdem er von seinem älteren Bruder Emiel dort angemeldet worden war. Diese Ausbildungsstätte war im Jahr 1879 als Konservatorium für Organisten gegründet worden und hatte sich seither rasch einen bedeutenden Ruf in der Welt der »Musica sacra« erworben. Der Namensgeber Jacques-Nicolas Lemmens (1823–1881), Absolvent des Brüsseler Konservatoriums und in Breslau Schüler von Adolph Hesse, war einer der renommiertesten Bach-Interpreten und Orgelpädagogen seiner Zeit. Seine »École dʼorgue« wurde stilbildend für viele weitere Orgelschulen. Zu seinen Schülern zählen u. a. Alexandre Guilmant, Charles-Marie Widor und Oscar Depuydt, der nun der Orgellehrer von Flor Peeters werden sollte. Oscar Depuydt (1853–1925) galt als herausragender liturgischer Orgelimprovisator und war ein geschätzter Orgellehrer. So waren beispielsweise Jules van Nuffel, Jules Vyverman, Staf Nees und Arthur Meulemanns seine Schüler. Die genannten Musiker hatten im Belgien des 20. Jahrhunderts bedeutende Stellen inne und wirkten auch als Komponisten vorwiegend geistlicher Chormusik prägend auf das kirchenmusikalische Leben ihrer Zeit.
Flor Peeters war im Lemmens-Institut der mit Abstand jüngste Student. Die meisten seiner Kommilitonen waren als Soldaten im Ersten Weltkrieg eingesetzt gewesen und somit durchwegs älter als er. Seine Lehrer am Institut waren neben Depuydt (Orgel und liturgische Orgelimprovisation) van Nuffel (Gregorianischer Choral) und Lodewijk Mortelmanns (Kontrapunkt und Fuge). Peeters war ein eifriger und herausragender Student. So konnte er das eigentlich auf acht Jahre ausgelegte Studium bereits nach vier Jahren erfolgreich beenden. Dem Abschlussdiplom im Jahre 1921 folgte 1922 der Exzellenzpreis. Alle Prüfungen schloss er mit Bestnote und Auszeichnung ab. Im Jahr 1923 wurde der erst 20-Jährige mit dem »Prix Lemmens-Tinel« ausgezeichnet. Er war damit der jüngste Empfänger dieses prestigeträchtigen und höchsten Preises des Lemmens-Instituts.4
Flor Peeters