Hilflos -Ratlos - Ziellos. Erhard Kaupp
gesellte sich zu dieser alljährlich wiederkehrenden Seuche etwas völlig Neuartiges: Corona, weltweit in aller Munde. Ein Ende scheint auch jetzt noch lange nicht in Sicht zu sein. Wer hätte das gedacht? Erst berichteten die Medien über die neue Abart eines altbekannten Virus, dann über eine Epidemie, die nur Tage später zur Pandemie korrigiert wurde. Die Nachrichtenkeule, die über unseren Köpfen geschwungen wurde, kannte kaum noch anderen Nachrichten. Ein Bombardement an Bad News hagelte sintflutartig auf uns nieder.
Wie wohl unsere Kinder und sensible Menschen darauf reagieren werden, fragte ich mich. Meine Neugier war geweckt. Offen für alles versuchte ich, mir einen Reim darauf zu machen.
Es war nicht von langer Dauer. Mein Interesse verwandelte sich im Laufe der Tage langsam und unaufhaltsam in einen undefinierbaren Zustand, dem zu entfliehen ich mich außerstande sah. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass etwas undefinierbares Großes in der Luft lag. Täglich schaltete ich pünktlich zur Tagesschau das TV-Gerät ein. – Keine Ahnung, was einen da magisch anzieht, die offiziell bestätigte Einschaltquote sagt aber alles. – Jeder Seifenopernproduzent wäre froh über eine derartig rasante Steigerung der Quoten.
Bei den täglich neu produzierten Bildern blieben die Nebenwirkungen nicht aus. Beängstigend schnell steigende Fallzahlen von Infizierten und Toten, widersprüchliche Meldungen von Wissenschaftlern und Politikern, Szenen aus Krankenhäusern mit vermummten Ärzten und an Maschinen angehängten Menschen verfehlten auch bei mir nicht ihre Wirkung. Warum nur sah ich mir das an? War es Sensationsgeilheit, Neugier oder die Notwendigkeit, in einer Krisenzeit stets auf dem aktuellen Stand informiert zu bleiben? Irgendwie kam ich mir selbst fremd vor und hätte besser nicht hingesehen. Stattdessen ließ ich mich von den Öffentlich-Rechtlichen gefangen nehmen.
Meine nächtlichen Schlafperioden wurden kürzer, die Nachrichten fanden im Unterbewusstsein eine Fortsetzung. Wer schlecht schläft, bekommt spätestens am Folgetag die Quittung: Unaufmerksamkeit, Konzentrationsmangel und Müdigkeit.
In meinen Gedanken lieferten sich Zahlen von Infizierten und toten Menschen eine Schlacht mit Zukunftsängsten und Erinnerungen an eine ehemals heile Welt. Es war inzwischen für mich nicht mehr nachvollziehbar, welches Genre Film im Moment ablief: Science-Fiction, Horrorfilm, Psychothriller, Drama … oder gar alles gleichzeitig? Der Vollständigkeit halber möchte ich noch Comedy und Theater erwähnen.
Too much input!
Wer macht sich in solchen Zeiten keine Gedanken?
Die Nacht des Großen Bruders
Eine nicht enden wollende schlaflose Nacht lag wieder einmal hinter mir. Wie jeden Tag zogen meine Frau und ich am Vorabend eine Art Bilanz des Tages und tauschten uns aus. Meiner Meinung nach ist das generell das Wichtigste, um eine harmonische Partnerschaft aufrechtzuerhalten, doch das erfordert beiderseits eine gewisse mentale Stabilität.
Für mich als Mann ist es von Bedeutung, für meinen Partner da zu sein, die starke Schulter zu bieten, auf die man sich stützen und verlassen kann. Da jeder von uns genau solch einen Menschen braucht, schätze ich mich glücklich, so eine Frau zu haben. Wie oft flüstern wir uns vor dem Einschlafen ins Ohr: »Komm, wir reparieren uns gegenseitig.« Schönere Worte zu finden, um einen Tag zu beschließen, kann ich mir nicht vorstellen!
So erzählte meine Frau am Vortag von einem Vorfall mit einem Patienten auf ihrer Station, der sie gefühlsmäßig überaus berührte und Spuren hinterließ, die man nicht so einfach ausblenden kann; so sehr man sich das auch wünschen mag. Das von ihr Erlebte sollte mich noch eine Weile beschäftigen. Mir war klar, dass es sich um ein Einzelschicksal handelte, das mich im Grunde überhaupt nichts anging, trotzdem hatte es sich beim Einschlafen in meinem Unterbewusstsein eingenistet.
Das hatte zur Folge, dass mich ein Albtraum schweißgebadet aufwachen ließ, und letztendlich bekam ich kein Auge mehr zu. Wirre Gedanken jagten durch meinen Kopf. Die Erzählung meiner Frau vermischte sich mit der im Fernsehen ausgestrahlten medialen Gehirnwäsche. Hätte ich doch besser Bauer sucht Frau oder eine belanglose Spielshow auf einem der unzähligen privaten Sender angesehen, das wäre in meinem Fall sicherlich die intelligentere Lösung gewesen. Aber nein, ich musste mir nicht nur die Nachrichten, sondern zusätzlich noch die darauffolgende Sondersendung reinziehen, immer aktuell informiert sein, um am Ball zu bleiben.
Selten hatte ich einen vorangegangenen Traum so deutlich vor Augen wie in dieser Nacht. Immer wieder tauchte ein Großer Bruder auf. Ich machte Regierungsleute aus, die gesichtslos in Schutzkleidung steckten, wie sie in der Krankenpflege Verwendung finden, Menschen in überfüllten Krankenhausbetten an Schläuche gekettet und noch viel mehr, an das ich mich nicht mehr ausreichend erinnern kann.
Mein Unterbewusstsein hatte volle Arbeit geleistet und mich mit voller Kraft in die Ecke gedrängt. Was hängen blieb, waren ein paar immer wiederkehrende Schlagworte, allen voran der Große Bruder.
Ich begann, dem unbekannten Großen Bruder Fragen zu stellen:
Großer Bruder,
was hast du nur gemacht,
hatten wir nicht bis gestern
gemeinsam noch gelacht?
Verschwommen sieht mein Auge,
was vorher sternenklar,
wird die Welt jemals wieder so,
wie sie einmal war?
Aus zuerst noch ungereimten Wortfragmenten bildete sich nach und nach eine Geschichte. Letztendlich blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen. War es vor drei Uhr morgens oder schon später? Ich sah nicht auf die Uhr. Wie besessen drehte sich der Große Bruder in einem Karussell über meinem Kopf und ich fragte weiter:
Großer Bruder,
schaust du von oben zu?
Wichtig scheint nur,
du hast deine Ruh.
Es scheint mir nicht mehr lange
und dein Volk spielt wieder Krieg
einst heile Welt,
sie dann in Schutt und Asche liegt.
Vor meinem Auge tauchten Bilder von Kriegen auf, von zerbombten Städten, schreienden Menschen und weinenden Kindern. Seltsamerweise sah ich keine Menschen mit Waffen. Tränen standen mir in den Augen, ich riss die Balkontür weit auf. Ich brauchte Luft, weil ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Der Große Bruder hatte mich in den Würgegriff genommen.
Es vergingen gefühlte Stunden, bis ich wieder an den Schreibtisch zurückkehrte. In der Dunkelheit flimmerte der kleine Bildschirm meines Tablets. Gott sei Dank hatte meine Frau tief und fest geschlafen. Ich wollte nicht, dass sie sah, wie schwach ich in diesem Moment war.
Mit zitternden Fingern begann ich meine nächste Frage ins Tablet einzutippen:
Großer Bruder,
was hast du nur gemacht?
Hey, großer Bruder –
oder sollte ich sagen Schwester?
Immerhin werden wir (tatsächlich?) von einer Frau als Staatschefin regiert.
Trrr … klickte es mit leisen Tönen. Mit der Entfernen-Taste löschte ich diesen Satz wieder aus dem Vers. – Oder hätte ich ihn sollen stehen lassen?
Großer Bruder,
was nützt dir deine Macht,
wenn zwei verlieren,
stets ein Dritter