Wanderfieber. Christian Zimmermann
einer anderen Gelegenheit missbrauchte ich Mrs. Molly als rollenden Kühlschrank. An meiner Geburtstagsparty füllte ich sie kurzerhand mit Eiswürfeln auf, um nicht nur alkoholfreie Getränke kühlzuhalten. Das hat auch prima funktioniert und Molly stand wieder einmal im Mittelpunkt des Geschehens! Diese Aktivitäten ebbten aber allmählich ab und der gutmütige und nicht mehr vollständig abstinente Einkaufswagen fristete in der Garage meistens ein eher gelangweiltes Dasein.
Die Vorbereitung
Im Jahr 2018 bemerkte Mrs. Molly, dass ihr Herr und Meister (damit bin ich gemeint), eine neue Idee mit sich herumtrug. Im Sommer begann ich den Einkaufswagen europatauglich umzubauen. Unter Mithilfe meines Nachbarn Ruedi wollte ich die verbreiterten Achsen in den Originalzustand zurückversetzen. In Australien, wo vieles ein bisschen grösser ist, war die Spurbreite von 80 Zentimetern optimal. Knappe 60 Zentimeter schienen mir für Europa angebrachter, um möglichst durch alle Türen zu passen. In Ruedis Werkstatt bockten wir Mrs. Molly auf. Funkenschlagend und schon fast brutal, schnitten wir mit dem Winkelschleifer ihre vier alten Räder ab. Anschliessend drehten wir Molly zum Schweissen um. Mit Schraubzwingen fixierten wir die neuen Teile millimetergenau. Vor allem bei den Bockrollen, also bei den starren Rädern am Bug, mussten wir sehr präzise arbeiten. Die müssen perfekt in der Spur stehen! Bei den hinteren Lenkrollen ist die Genauigkeit nicht derart wichtig, da die Räder mitdrehen können. Mit dem Elektroden-Schweissgerät zog Ruedi gekonnt Schweissnaht um Schweissnaht. Immer wieder hämmerte er die entstandene schwarze Schlacke weg, um seine Arbeit kontrollieren zu können. Bei Bedarf schweisste er ein wenig nach, bis die vier Rollen fehlerfrei befestigt waren. Mit der Drahtbürste reinigte er sorgfältig alle Schweissnähte. Zu guter Letzt sprayte Ruedi die bearbeiteten Teile mit einem grauen Korrosionsschutz ein, damit das Wägelchen keinen Rost einfängt.
Bei dieser Gelegenheit gönnte ich meinem Gefährt auch eine neue Bereifung. Die alten, australischen Pneus waren nämlich völlig abgefahren und die Armierung kam teilweise zum Vorschein. Der Plan war eigentlich, von den geschäumten und pannenfreien Rädern auf luftgepumpte Exemplare zu wechseln. Ich versprach mir ein noch besseres Rollverhalten. Aus diesem Grund fuhr ich zu einer spezialisierten Firma im Kanton Aargau, die solches Material im Angebot hat. Die Frage, ob ich den Pneu bei einer Panne zum Flicken problemlos von der Felge kriege, wurde bejaht. Ich wollte mich aber persönlich davon überzeugen und bat deshalb den Werkstattmitarbeiter, mir einen Reifenwechsel vorzuzeigen. Dieser wollte das Rad kurzerhand in den Schraubstock einspannen, was ich ihm aber verbot, da ich dieses Hilfsmittel auf meiner Reise nicht zur Verfügung hätte. Ohne Schraubstock biss sich der Profi an der Felge, auch mit drei langen Metallhebeln, die Zähne aus. Die 20 Zentimeter Durchmesser des Pneus liessen sich von Hand einfach zu wenig dehnen, damit der Gummi über die Felge sprang. Wir stellten den Versuch ein und die Wahl fiel unweigerlich wieder auf die geschäumten Räder.
Zusätzlich zur neuen Bereifung kleidete ich den Einkaufswagen wasserdicht aus. In Australien hatte ich nur die letzten paar Tage mit Regen zu kämpfen. Um Mrs. Molly und die Ausrüstung vor Nässe zu schützen, genügte mir da ein Stück weisses Plastik, das ich unterwegs im Strassengraben fand. Auf meinem geplanten Trip im Sommer 2019 rechnete ich mit etwas feuchterem Wetter. Aus diesem Grund wollte ich mich regensicher einrichten. Ein altes Stück Teichfolie musste für dieses Unterfangen herhalten. Das Zuschneiden der Folie stellte sich als eine ziemlich komplizierte Herausforderung dar, da der Korb von Molly überall konisch zuläuft. Ich kämpfte geraume Zeit bis die Falten eliminiert waren und das Teil passte. Mit Wäscheklammern fixierte ich die Folie rundherum am Wagen, schnippelte da noch ein Stück weg und werkelte geduldig an den Ecken herum, bis ich mit dem Resultat zufrieden war. Erst dann kam der PVC-Kleber aus dem Baumarkt zum Einsatz. Obschon ich diese Arbeit im Freien durchführte, benebelten mich die Dämpfe, so dass ich mich wie auf Wolke Sieben fühlte! Zusammen mit dem Deckel hoffte ich, einen dichten Stauraum geschaffen zu haben.
Ein weiteres neues Gadget, das ich mir leistete, war ein Strandschirm. Das untere Rohr spannte ich mit mehreren Kabelbindern fix an Mrs. Molly. Die 150 Zentimeter Durchmesser des Polyesterschirms werden mich hoffentlich während des Marschierens vor Sonne und Regen schützen. Zusätzlich könnte ich einen Handgriff am Schirm montieren, um diesen auch konventionell zu nutzen. An den Lenker befestigte ich zudem eine Smartphone-Halterung, um beim Gebrauch der Navigation die Hände freizuhaben. Ein Schloss musste auch noch an den Wagen. Ich schraubte zwei dicke Ösen auf den Deckel, eine hinten, die andere vorne. Nun kann ich mit einem Stahlseil den Deckel sichern und mit einem Vorhängeschloss abschliessen. Bei Bedarf kann ich den Wagen zusätzlich mit einem handelsüblichen Fahrradschloss irgendwo anketten. Last but not least befestigte ich an der hinteren Gitterfläche drei 1,5 Liter PET-Flaschenhalterungen. Auf diese Weise werde ich das regelmässig benötigte Trinkwasser immer in Griffnähe haben. Und alles Material, das aussen befestigt werden kann, nimmt mir keinen kostbaren Platz im Innern weg.
Sehr viel Zeit hatte ich auch in die Recherche der Routenwahl gesteckt. Wo genau sollte die Reise zwischen Flumenthal und Moskau durchführen?
Die direkteste Strassenverbindung wurde mir im Internet mit 2654 km angegeben. Nach den 3059 km in Australien ist das ja ein Klacks, dachte ich mir! Doch auf Europas Autobahnen haben Mrs. Molly und ich definitiv nichts verloren. Darum richtete ich mein Augenmerk vorwiegend auf Fahrradwege. Bis nach Wien kann ich die berühmte «EuroVelo 6» der Donau entlang benützen. Da ist alles bestens ausgeschildert und wird die optimale Strecke zum Einlaufen sein. Nach Brünn in Tschechien und weiter ins polnische Krakau soll es noch einzelne andere Fahrradwege geben. Im weiteren Verlauf der Reise werde ich mich über möglichst verkehrsarme Seitenstrassen Richtung Norden schlängeln. Um Weissrussland werde ich einen weiten Bogen machen und viel lieber durch Polen, Litauen und Lettland marschieren. Dieses Teilstück wird voraussichtlich das Herausforderndste betreffend kluger Streckenwahl werden. Ab der russischen Grenze werde ich dann keine Auswahl mehr haben. Vorausgesetzt, dass mich die Zöllner in ihr riesiges Reich lassen, werde ich auf der Fernstrasse M9, ohne irgendwo abzubiegen, die 620 km bis in die russische Hauptstadt abspulen. Und hoppla – aus den ursprünglichen 2654 km sind nach der Feinplanung plötzlich 3400 km geworden – doch Mrs. Molly und der Trolley Man sind bereit!
Bereit? Noch nicht ganz. Für Russland werde ich eine Einreisebewilligung benötigen. Das normale Touristenvisum wäre nur 30 Tage gültig, was rein theoretisch absolut ausreichen würde. Doch ich wusste natürlich nicht genau, wann ich an der Grenze auftauchen werde. Die Strecke der ersten drei Monate konnte und wollte ich nicht auf den Tag genau verplanen. Und ich hatte auch nicht vor, mich unter Druck zu setzen, um das tägliche Pensum hirnlos abzuarbeiten. Ich wollte das Abenteuer möglichst geniessen und auch immer spontan Zeit haben, um irgendwo einen Abstecher zu machen oder einen zusätzlichen Ruhetag an einem schönen Ort einlegen zu können. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als ein Geschäftsreisevisum zu beantragen, das drei Monate gültig ist. Ich wandte mich an eine spezialisierte Firma in Bern, die für mich das Administrative und die Gänge zur Botschaft erledigte. Das Prozedere war relativ simpel. Zuerst füllte ich den ausgedruckten Fragebogen aus. Den Versicherungsnachweis meiner Krankenkasse hatte ich schon vorgängig organisiert. Dort musste explizit die Deckung der Heilungskosten in Russland und auch die Rückführung im Krankheits- oder Todesfall bestätigt werden. Mit einem aktuellen Passfoto und dem unterschriebenen Fragebogen steckte ich meinen Pass in einen Briefumschlag und sandte ihn eingeschrieben nach Bern. Zwei Wochen später und um 260 Schweizer Franken erleichtert, kam der Pass mit dem russischen Visum auf dem Postweg zu mir zurück. Ich war definitiv bereit!
Orte und Distanzen von Flumenthal nach Moskau
Flumenthal CH | 0 |
Aarau CH | 51 |
Koblenz CH | 88 |
Immendingen D | 156 |
Sigmaringen D | 226 |
Riedlingen D | 256 |
Ulm D | 330 |
Lauingen D | 375 |
Gremheim D | 407 |
Neuburg D | 461 |
Pförring D | 506 |
Saal D | 541 |
Straubing D | 617 |
Passau D | 709 |
Schlögen A | 749 |
Linz A | 817 |
Schönbühel A | 919 |
Wien A | 1033 |
Laa an der Thaya |