Die Uhrenträgerin. Anja Heyde
und erkläre mir, was Ihr hier macht."
Destineaux und Pollagia schauen sich unsicher an. Da ergreift Destineaux wieder das Wort. Er schildert dem Dieb in kurzen, knappen Sätzen, dass er die beiden komischen Gestalten an der Feuertonne belauscht hat, wie sie von einem Armband gesprochen haben, welches wohl magische Kräfte besitzt.
"Ich weiß nur, dass die Marshmallows in heißer Schokolade geschmolzen und dann getrunken werden müssen." ergänzt der Mäuserich noch.
"Ein Marshmallow – der Rote – verändert zum Beispiel das Aussehen."
Pollagia hat sich wieder etwas beruhigt und meint:
"Ich brauche unbedingt etwas für meinen Magen. Vielleicht kann ich einfach die Marshmallows auffressen? Dann hat das Armband seinen Zweck erfüllt."
"Nein, wartet. Ich habe eine Idee! Wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen in einem Cafè. Dann schmelzen wir den roten Marshmallow in heißer Schokolade. Wir trinken die heiße Schokolade in einem Zug aus und warten ab, was passiert. Ich bin für solche Abenteuer immer zu haben. Aber zuerst muss ich den Geldkoffer in Sicherheit bringen."
Destineaux und Pollagia können auch keinen anderen Vorschlag einbringen. Etwas Besseres zu tun haben sie auch nicht. Und so machen sich die drei auf den Weg Richtung Stadtzentrum.
DER BRIEF
Während des Fußmarsches fängt der Fremde an zu erzählen. So erfahren Destineaux und Pollagia, was es mit dem Koffer auf sich hat. Und auch, warum der Fremde vor der Polizei geflüchtet ist.
"Wisst Ihr, ich saß letztens auf einer Bank. Die Bank stand mitten auf einer großen, grünen Wiese. Dort wollte ich mich auszuruhen. Plötzlich sah ich neben mir einen Brief liegen. Der Brief lag da, als wollte er unbedingt gelesen werden. Also nahm ich den Brief zur Hand und fing an zu lesen. Darin stand, dass in einer kleinen Seitenstrasse – nahe einer alten Kirche – an einem datümlich genannten Donnerstag – hinter einem Stapel Umzugskisten – ein Schlüssel zu finden sei, welcher zu einem Schließfach in einem fragwürdigen Hotel gehört. In dem Schließfach wäre ein Koffer voller Geld zu finden. Das fand ich so unglaublich, dass ich den Brief wieder und wieder lesen musste. Mir liefen die Tränen über mein Gesicht, weil ich daran dachte, was man mit dem Geld alles Gutes tun könnte. Ich nahm Papier und Stift zur Hand und machte mir Notizen, wer beschenkt werden könnte. Plötzlich stand eine alte, rundliche Frau vor mir. Sie trug einen braunen Filzhut mit einer riesigen steifen Krempe. Der Hut war über und über mit bunten Anhängseln versehen. Dazu eine abgewetzte rote Jacke – knielang – die fast nur noch aus Flicken bestand. Sie sah mich mit großen blauen Augen durch ihr auf dem rechten Auge sitzendes Monokel an.
Dann holte sie einen klobigen Wecker mit zwei riesigen Glocken aus ihrer Jackentasche. Ernst schaute sie erst auf mich und dann auf die schwarzen Zeiger. Sie schaute mir durch ihr Monokel ganz tief in die Augen und zeigte auf die Weckerzeiger. Die Alte raunte mir mit ruhiger Stimme ins Ohr: `Sie müssen sich beeilen. Holen Sie den Koffer. Er muss sofort in Sicherheit gebracht werden. Sehen sie, die Zeit rennt schon!` – und dann ging die alte Dame einfach davon."
Destineaux und Pollagia sind ganz gebannt von der Erzählung. Der Fremde spricht weiter.
"Wie durch eine unsichtbare Kraft verspürte ich den Drang, loszugehen und den Auftrag zu erfüllen.
Und so tat ich es. Ich ging Richtung Innenstadt. Ich habe den Schlüssel hinter den Umzugskisten gefunden. Ich bin zu dem zwielichtigen Hotel gegangen. Ich habe das Schließfach geöffnet und den Koffer herausgenommen, aus dem die Geldscheine hervor schauten. Dabei habe ich mir keinerlei Gedanken gemacht, wo das Geld herstammen und wem es gehören könnte. Das ist bei mir übrigens immer so, dass ich nicht weiß, warum genau ich etwas tue – nur dass ich es tun muss."
Der Fremde überlegt kurz, räuspert sich und erzählt weiter: "Der Typ an der Rezeption hat mich dabei die ganze Zeit misstrauisch beobachtet. Dann nahm er plötzlich das Telefon zur Hand und wählte eine Nummer. Als ich aus dem Hotel kam, hörte ich aus der Ferne Polizeisirenen. Da entschloss ich mich, das Weite zu suchen. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja."
"Und was willst Du jetzt mit dem Geld machen?" fragt der Mäuserich.
"Das werde ich in Sicherheit bringen. So wie die alte Dame es mir geraten hat. Und so wie es zu meinen Aufgaben gehört, mir plötzlich zufallende Aufträge zu erfüllen. Ohne danach zu fragen, warum und wieso." antwortet der Fremde.
Destineaux und Pollagia erzählen dann ihrerseits, wie sie in den Hinterhof gekommen sind. Die Beiden empfinden zu ihrer eigenen Verwunderung keinerlei Angst vor dem Fremden. Er scheint wie von einer magischen, sehr positiven Aura umgeben zu sein.
Mittlerweile ist es schon spät geworden. Deshalb steigen alle – um den Weg in die Innenstadt etwas zu beschleunigen – in eine alte, klapprige Straßenbahn.
Den Dreien schräg gegenüber sitzt eine alte Dame. Zu sehen ist sie nur von hinten. Wie in Zeitlupe dreht sie sich auf einmal um. Der Fremde erkennt sie sofort. Es ist die gleiche Alte von der großen Wiese. Und er findet auch, dass er sie vor der Begegnung auf der großen Wiese schon einmal gesehen hat. Nur kann er sich nicht mehr erinnern, wo. Sie holt wieder ihren großen Wecker aus der Jackentasche, zeigt auf die Zeiger und flüstert: "Sehen Sie, die Zeit ist gerannt. Jetzt findet der Wandel von Zeit und Raum statt!"
Der Wecker fängt an, ganz laut zu klingeln. Die wenigen Fahrgäste, die noch in der Straßenbahn sitzen, drehen sich um und schütteln verständnislos den Kopf.
"Auf Deine beiden Freunde passe ich auf, bis Ihr Euch wiederseht."
"Welcher Wandel?" wundert sich der Fremde noch. Und plötzlich fällt ihm wieder ein, dass er ja seine Gestalt nicht auf Dauer behält. Da wird ihm – wie er es schon kennt – übel, schwindelig, heiß und kalt. Er sieht lauter bunte, flimmernde Flecke vor seinem rechten Auge. Und da verschwindet er auch schon von seinem Straßenbahnsitz und mit ihm der Koffer.
Destineaux und Pollagia sind völlig perplex. Die alte Dame steht von ihrem Sitz auf, geht zu den Beiden rüber und sagt freundlich: "Mein Name ist Moira. Kommt mit mir mit, ich werde Euch ein bisschen mehr über den Fremden, über mich und über alles andere im Allgemeinen erzählen. Und ja, auch ich verstehe Eure Sprache."
DIE UHRENTRÄGERIN
Zusammen mit Moira steigen Destineaux und Pollagia etwas irritiert bei der nächsten Haltestelle aus der Straßenbahn und gehen über einen großen, von vielen Häusern umsäumten Platz.
Auf dem Platz tummeln sich – trotz vorgerückter Abendstunde – noch sehr viele Menschen. Viele sehen geschäftig aus, andere sind mit großen Einkaufstüten bepackt. Wieder andere unterhalten sich angeregt mit anderen. Während die Drei den Platz überqueren, beginnt die Alte ihre Erzählung.
"Der Fremde, den Ihr für einen Dieb haltet, ist ein Wesen namens IKAS. IKAS ist die Abkürzung für 'Ich-Kann-Alles-Sein'. Das Sein von IKAS wird bestimmt durch Aufgaben und Aufträge, die in einer bestimmten Zeit erfüllt werden müssen. Einer wie IKAS kann sich zu diesem Zweck in jede beliebige Person verwandeln. Heute habt Ihr IKAS als unheimlich aussehenden Kerl kennengelernt.
Er kam Euch zuerst sicher nicht ganz geheuer vor. In seiner jetzigen Form ist er vielleicht als alter Mann oder kleiner Junge unterwegs, um seine Mission zu erfüllen.
Der Koffer, den IKAS gefunden hat, war gefüllt mit dem Geld eines Betrügers. Um das Geld wieder seinen rechtmäßigen Besitzern zuzuführen, wird der Koffer während IKAS' Verwandlung an einen geheimen Ort gebracht. Von dort geht er mit ein bisschen Magie an den Eigentümer zurück. IKAS ist immer mit positiver Energie ausgestattet. Ihr werdet ihn nie böse oder feindselig erleben. Sollte dies doch einmal der Fall sein, dann stimmt irgendetwas nicht."
Die alte Dame bleibt stehen, sieht sich kurz um und flüstert: "IKAS stammt aus einer Welt, die nicht für Jeden sichtbar ist. Nur wer genau hinschaut,