LANDEBAHN. Stefan Gross

LANDEBAHN - Stefan Gross


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ich Mädchen, meistens ältere, die wie ich Spaß haben wollten. Im Grunde waren sie alle gleich. Ein bisschen Sabine, ein bisschen Annie, ein bisschen was Neues. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder in eine zu verlieben. Thomas erzählte mir irgendwann, Sabine sei nach Kreuzberg gezogen. Es wäre der Moment gewesen, über die Sache zu reden. Ich spürte, dass Thomas Bescheid wusste. Aber Thomas sprach das Thema nicht an, er redete nur über die Probleme, die er mit ihr hatte, über ihre Forderungen. Ich ging ihm noch mehr aus dem Weg. An meinem achtzehnten Geburtstag kam er runter zu mir. Ich hatte nicht vor, mit ihm zu feiern. »Gibt ne kleine Überraschung«, sagte er und ich willigte schließlich ein. Wir fuhren nach Steglitz in eine Werkstatt. Der Typ dort war einer aus Thomas’ Männergruppe. Er verschwand kurz auf dem Hof und fuhr dann mit einem schwarzen Peugeot 205 vor. »Dein Geschenk«, sagte Thomas knapp. Es war das letzte Mal, dass wir uns kurz umarmten und beide Tränen in den Augen hatten. Ich legte kurz darauf ein Abi mit 1,7 ab. »Melde dich mal ab und an«, sagte Thomas, als ich ihm den Schlüssel vom Haus gab und mich mit meinem vollgepackten Wagen auf den Weg nach München machte. Ich hielt mich daran und schrieb manchmal Postkarten, später gelegentlich kurze Mails. 2008 eröffnete Thomas mir in einer längeren E-Mail, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs habe. Ein paar Wochen später verstarb er und ich schaffte es nicht zu seiner Beerdigung. Er vererbte mir vierzigtausend Euro.

      Schon vorher war Mirko vollkommen aus meinem Leben verschwunden, einfach so. Er hatte das Abi nicht hinbekommen und sich einfach aus dem Staub gemacht. Ich hätte ihn durch die Prüfungen gezogen und geschoben wie einen störrischen Esel über die Pässe der Pyrenäen, wenn er nur einmal was gesagt hätte. Ich vermisste ihn zum ersten Mal seit damals und fragte mich, was aus ihm geworden war.

      Ich ließ den Wagen an und fuhr zum Schiefen Zahn, parkte an der gleichen Stelle wie damals und nahm meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Ich steckte die zwei Wasserflaschen in die Seitentaschen, hängte mir das Fernglas um und marschierte los. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, nur noch viel verwunschener. Ich stieg die seitliche Flanke zu dem Sattel hinauf, der den Schiefen Zahn ans Massiv band. Ich hatte Mühe, auf dem rutschenden Geröll voranzukommen. Der Sattel war weiter erodiert und irgendwann würde der Schiefe Zahn kippen. Die Bäumchen oben auf dem Plateau waren immer noch recht klein, hatten aber dicke Stämme und ein ausladendes Blätterdach ausgebildet, richtige Solarfänger aus Blattgrün. Unter diesem grünen Dach richtete ich mich ein. Der Himmel im Westen leuchtete orange in der tief stehenden Sonne. Ein dünner violetter Streifen am Horizont verband Himmel und Erde. Dann wurde es langsam dunkel und die Sterne begannen zu leuchten. Ich schlief nicht, bis auf ein paar Minuten vielleicht, in denen ich erschöpft einnickte und gleich wieder aufwachte, denn der Himmel, die Sterne, die Gerüche und Geräusche, waren es wert, die Nacht zu durchwachen. Hin und wieder flog mich das Fieber an, in Wellen, die mir erträglich schienen.

      Mit der Morgendämmerung verließ ich das Plateau und fuhr zurück ins Haus. Als ich nach dem Duschen Fieber maß, hatte ich etwas über 38 Grad. Ich nahm zwei Ibuprofen und versuchte, bis gegen zwölf zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Der Faden, an dem ich über dem Abgrund des Schlafes baumelte, wollte nicht reißen. Gegen zwei machte ich mich auf zum Flughafen. Mit der S-Bahn waren es nur ein paar Stationen. Alice hatte sich nicht mehr gemeldet. Aber man meldet sich auch nicht an seinem Geburtstag bei dem Menschen, der einem ein Leben lang Liebe und Treue vor einem Standesbeamten, engsten Verwandten und der allerbesten Freundin versprochen hat. Ich brachte es nicht über mich, sie anzurufen, nicht mal, ihr einen kleinen Text oder wenigstens eine originelle Animation zu schicken. Einen Happy Birthday singenden Mäusechor hatte ich gespeichert, aber es schien mir die unpassendste Geste überhaupt zu sein. Ich stellte das Telefon auf Flugmodus und begab mich in die Businesslounge der Emirates. Hier war meine Einsamkeit erträglich. In Flieger, im komfortablen Sitz in der Business-Class, fühlte ich mich sogar geborgen. Ich wurde von lächelnden Stewardessen bedient, aß Filet Mignon und trank drei oder vier Gläser Burgunder, auch weil ich hoffte ein wenig schlafen zu können. Als das nicht gelang, schaute ich mir Inglourious Basterds von Quentin Tarantino an. Ein bisschen fühlte ich mich, als hätte ich selbst Geburtstag. Doch je länger der Flug dauerte desto erschöpfter und nervöser wurde ich. Die Nachwirkungen des Alkohols hätte ich nur mit noch mehr Alkohol vertreiben können, aber das kam nicht in Frage. Ich wäre gewiss nicht der einzige, der sich auf einem Interkontinentalflug betrank, aber ich hatte Angst vor einem Kontrollverlust.

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