RELIGION - Friedens- oder Brandstifter?. Erwin Roth

RELIGION - Friedens- oder Brandstifter? - Erwin Roth


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      Dieser Psalm liefert die Antwort gleich mit. Im nächsten Satz heisst es nämlich:

       „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er lässt deinen Fuss nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht.”

      Dennoch – die Türken rückten nicht weg, und alle 800 Christen wurden von den Eroberern enthauptet. Dabei hätte Gott ja nur ein ganz klein wenig Sturm aufkommen lassen müssen, und die türkische Flotte hätte Otranto nicht erreicht! Auch Jesus selbst erging es nicht anders. Im Garten Getsemani betet er vor seiner Gefangennahme:

      „… Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir…“ (Markus 14, 36).

      Dennoch nahmen die Dinge ihren bekannten Lauf. Und was ist mit den Abermillionen, die unter unvorstellbaren Schmerzen tagelang verletzt, verstümmelt, schreiend, stöhnend und wimmernd auf den Schlachtfeldern der Weltgeschichte liegen blieben, bis sie der Tod erlöste? „Gefallen“, heisst es dann trocken in der Berichterstattung. Was würden wohl die dazu sagen, wenn sie es könnten? Die meisten dieser Unglücklichen dürften den Tag verflucht haben, an welchem sie gezeugt wurden. Wer diese Darstellung für übertrieben hält, möge die „Erinnerungen an Solferino”von Henry Dunant lesen. Es ist heute nicht besser. Den Koreakrieg von 1950 - 1953 mit seinen mindestens 4,5 Millionen Toten haben wir weitgehend aus unserem Bewusstsein verdrängt. Im Vietnamkrieg fielen 58’220 US Soldaten. Ihr Durchschnittsalter betrug 19 Jahre. Dieser Krieg kostete zwischen zwei und fünf Millionen Vietnamesen das Leben. Die Verantwortlichen für diese entsetzlichen Verbrechen sassen selbstgerecht und unbehelligt in den Regierungsgebäuden von Moskau, Peking, Hanoi und vor allem in Washington, gingen wahrscheinlich regelmässig zur Kirche und wurden niemals zur Rechenschaft gezogen. Gerechtigkeit Gottes?

      Die zur Zeit vertriebenen 65 Millionen Menschen sind gemäss UNHCR die höchste Zahl in der Geschichte der Menschheit, und die Tendenz ist steigend. Das Schlimmste daran ist es, dass mehr als die Hälfte davon Kinder sind. Das sind nur ein paar wenige Beispiele. Unser abgebrühtes Gewissen nimmt tagtäglich solche Informationen mit mässiger Rührung zur Kenntnis, ohne darüber nachzudenken, was für entsetzliche Einzelschicksale sich dahinter verbergen. Man schiebt die Schuld höchstens den Medien zu. Früher war es auch nicht besser, nur wusste man nichts davon. Das stimmt zum Teil, denn unser Wissen beruht in diesen Dingen grösstenteils auf „Infopretationen” unserer Medien. Soll das etwa ein Trost sein oder ein Beweis dafür, dass alles doch nicht so schlimm ist?

      Wer heute glaubt, Gott liebe die Menschen, nur weil es so in der Bibel steht und wir hier in Mitteleuropa um das Jahr 2000 gewissermassen auf einer Insel der Glückseligen leben, macht es sich einfach. Er verschliesst die Augen vor der Wirklichkeit. Der Grund kann in nichts wissender Naivität liegen oder in zweckgerichtetem Egoismus – wenn es nicht so schlimm ist, brauche ich ja nicht zu helfen und nichts zu geben, der Herrgott ist ja gerecht, liebt die Menschen und wird es schon richten. Am besten schaut man gar nicht so genau hin; es könnte zu einem Gewissenskonflikt führen. Aber tatsächlich geht es der Mehrheit der Menschheit miserabel. Noch immer verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren (Jean Ziegler), derweil andernorts Hochzeitsfeste für 50, ja 100 Millionen Dollar gefeiert werden (Tages-Anzeiger 17.12.2018). Für die weltweite Misere findet Jean Ziegler in seinen Büchern starke Worte. In seiner nicht gehaltenen Rede zu den Salzburger Festspielen 2011 wollte er die zu solchem Leiden führenden Missstände in ätzender Konzentration zur Sprache bringen. Er durfte nicht. Dabei hätte es genügt, wenn man ein paar „Direktschüsse“ gestrichen hätte. Die Rede ist dann unter dem Titel „Der Aufstand des Gewissens“ erschienen und jedermann zur Lektüre empfohlen.

      Am Bücherschrank in meinem Büro habe ich das Bild eines sechsjährigen Mädchens aus Bolivien aufgehängt, stellvertretend für Millionen von Kindern in der gleichen Lage. Das Bild ist kürzlich in einer Tageszeitung erschienen. Das kleine Mädchen ist eines von acht Geschwistern. Der Vater ist gelähmt, und die Mutter versucht, die Familie am Leben zu erhalten. Zu diesem Zweck muss das kleine Mädchen den ganzen Tag an einer Strassenecke tanzen. Es sagt der Mutter, es möchte nicht mehr tanzen, aber die Mutter schickt es zurück, denn ohne das Geld kann die Familie nicht leben. Aus dem kleinen Gesichtlein unter dem grossen Indiohut und den traurigen, fragenden Augen schreit das ganze Elend dieser Welt.

      Am 16. März 2020 verlor ein sechsjähriges Kind sein Leben bei einem Brand in einem Flüchtlingslager auf der Insel Lesbos….

      Die vielen, gut gemeinten Hilfsprojekte sind kaum ein Tropfen auf die heissen Steine. Nichts gegen diese Hilfsprojekte; jeder Franken, der diesen Armen zugute kommt, ist mehr als Gold wert, aber das Bedauerliche ist, dass es trotz dem guten Willen Vieler der Menschheit nicht gelungen ist, Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung, Korruption, Hungersnöte, Verbrechen, soziales Elend und viele andere Übel zu beseitigen. Im Gegenteil, die Härte und Grausamkeit, mit der die Kriege geführt werden, nehmen zu. Die Produktion von Waffen und der Handel mit denselben ist zu einem der profitabelsten Geschäfte geworden und aus unserem Wirtschaftssystem kaum mehr wegzudenken, obwohl hinter all dem die Apokalypse des alles vernichtenden Atomkriegs lauert. Und für Waffen haben interessanterweise auch die ärmsten Länder immer Geld… Es ist nicht zu fassen, dass selbst aus dem Elend der Flüchtlinge ein äusserst profitables Geschäft gemacht wird. Für eine Überfahrt über das Mittelmeer auf einem dem Absaufen geweihten Kahn werden einem Flüchtling durchschnittlich 3 – 5000 Dollar abgenommen. Dann werden so viele Menschen hineingepresst, wie es nur geht, oft bis zu 500 und mehr. Der Kahn mag absaufen, das ist denen egal, Hauptsache, sie haben ihr Geschäft gemacht und wieder eine Million mehr in der Tasche. Die Kasse der Schlepper klingelt, „und Gott hält sich mäuschenstill….“ (Gottfried Keller, „Der grüne Heinrich“).

      Es erstaunt, dass die Menschen in den vom Elend am meisten betroffenen Ländern oft sehr gläubig sind. Aber warum? Einfach deshalb, weil für sie auf dieser Erde keine andere Hoffnung besteht als die auf ein besseres Leben nach dem Tod. Ein solches stellt ihnen die Kirche in Aussicht, wenn sie es auf der Erde abverdienen, schön brav glauben und die kirchlichen Gebote befolgen. Das ist die Ursache ihrer Liebe zu Gott, nicht dessen Fürsorge für sie auf dieser Erde („Unsere Heimat ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der er sich alles unterwerfen kann.” Phil. 3, 30, oder: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.” Lk 23, 43).

      Auch in unserem unmittelbaren Umfeld ereignen sich Dinge, die wir nicht verstehen können, in denen sich die Frage „Warum?“ aufdrängt und nicht vertreiben lässt. Warum lässt Gott der Allmächtige zu, dass ein Kind seinen Eltern wegstirbt, dass ein verurteilter Mörder eine junge Frau umbringt? Und warum hilft er denen nicht, die heute im Elend und in der Gosse leben, hoffnungslos? Den Arbeitslosen, die verzweifelt eine Stelle suchen, weil sie Opfer der Globalisierung geworden sind, einer Globalisierung, die es den Mächtigen erlaubt, ungeheure Profite auf den Schultern der Schwachen zu scheffeln und mit ihrem derart erworbenen Reichtum zu prassen und zu bluffen? Was müssen diese Menschen empfinden, wenn von den Plakatsäulen herab „ Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mirfehlen.“ (Psalm 23) verkündet wird? Allen diesen Unglücklichen müssen Sprüche wie dieser oder Psalm 91, 11.12 („Denn Gott wird seinen Boten gebieten, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Auf den Händen werden sie dich tragen, damit dein Fuss nicht an einen Stein stosse.”) als Verhöhnung ihrer Not erklingen. Die deutsche Lyrikerin Gertrud Kolmar, die 1943 in Auschwitz umgebracht wurde, schrieb das ergreifende Gedicht „Das Lager”, aus dem ich hier nur die letzte Strophe zitiere:

       „Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,

       wenn nachts ein Schuss das Opfer greift…

       Und keinem ist der Mann erschienen,

       der schweigend mitten unter ihnen

       sein kahles Kreuz zur Richtstatt schleift.”

      Allein schon die Gräuel der Naziherrschaft würden ausreichen, um die in der Überschrift zu diesem Kapitl gestellte Frage zu rechtfertigen.

      Ist Gott denn willkürlich, gefühllos,


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