Stille, Ekstase, Glück. Armin Heining

Stille, Ekstase, Glück - Armin Heining


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Gleichaltrige. Zwischen Abendgebet und Nachtruhe trifft man sich gerne im Erzieherbüro des dem Kloster angeschlossenen Internats. Auf persönliche Einladung Pater Jeremias bin ich schon zwei Mal dabei gewesen. Dass ein so beliebter Präfekt mich zu einem seiner fröhlichen Abende einlädt, sagt mir, ich werde akzeptiert.

      Gleichwohl ist mir der Trubel schnell zu viel, zu laut, zu viele Personen, die ich nicht gut kenne, zu groß die Anstrengung, sich zu fokussieren. In den letzten Tagen möchte ich doch lieber für mich sein; meine Tagebuchaufzeichnungen vervollständigen oder alleine beten. In diesem Fall führt mich mein Weg dann in die Kapelle des Internats, außerhalb der Klausur, des abgetrennten Klosterbereichs. Es sind Weihnachtsferien, also kann ich sicher sein, dass niemand die kleine Kirche nutzt.

      Ich setze mich in eine Bank und lasse die erbauliche Atmosphäre auf mich wirken: den intensiven Geruch des Weihrauchs, das ewige Licht vor dem Tabernakel, das beruhigende Halbdunkel.

      »Lieber Gott, jetzt weiß ich nicht, ob ich hier bleiben soll oder lieber weggehen mit den anderen. Ich spüre, wie es in mir brennt, wie eine offene Wunde. Und ich weiß nicht, was ich gegen den Schmerz, gegen diesen großen inneren Schmerz machen soll. Was bedeutet mir mehr? Will ich lieber alleine mit mir jetzt in der Stille sein, weil du mir alles gibst? Oder liegt mir Gemeinschaft mehr am Herzen? Wo ist mein Platz? Wohin gehöre ich?«

      »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ulrich mich besorgt nach dem Frühstück.

      Wie aufmerksam er ist. Er bemerkt anderntags sofort, dass ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen habe und am liebsten unsichtbar bliebe.

      »Geht schon«, murmele ich.

      »Komm, lass uns einen Spaziergang machen. Die kühle Luft wird dir guttun.«

      Widerstrebend schließe ich mich ihm an, stelle aber draußen schnell fest, dass er recht hat. Die frische Brise klärt den Geist. Und lädt mutig zum offenen Wort ein.

      »Ich habe manchmal einfach Schwierigkeiten, mich neuen Situationen anzupassen«, beginne ich zögernd. Als Ulrich nichts erwidert, rede ich einfach weiter. Sein Schweigen wirkt ermunternd.

      »Das ist schon immer so gewesen, dass ich mit einer gewissen Reizüberflutung nicht zurechtkomme. Ich rede nicht gerne darüber, weil ich glaube, mich lächerlich zu machen. Was ist das schon für die meisten? Ein paar Menschen mehr oder weniger? Was macht das schon für einen Unterschied? Für mich einen großen. Das war schon seit meiner Kindheit so. Während eines Skiausflugs hatte ich eine Art Zusammenbruch, weil mir die Menschen auf der Piste, meine andauernden Abfahrten zu viel waren, mich überwältigten. Da war plötzlich so ein stechender Schmerz in der Herzgegend und ein Brennen in der Brust, als hätte sich eine Wunde geöffnet. Am meisten hat mich jedoch verletzt, dass es meinen Eltern egal war. Sie haben den Vorfall zur Kenntnis genommen, aber nichts hinterfragt, keine medizinische Untersuchung veranlasst, nichts. Meine Gefühle sind bis heute kein Thema, mit dem sie etwas anzufangen wissen.«

      »Eine schlimme Geschichte.«

      Wie es ihm immer wieder gelingt, sein Mitgefühl in so schlichten Worten auszudrücken und mich dennoch immer zu erreichen – das tut wirklich gut.

      »Weißt du, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe?«, vertraue ich ihm leise an.

      »Wirklich? Dann sprich dich nur aus. Vielleicht hilft’s dir in der Zukunft.«

      Wenn das so einfach wäre. Aber vielleicht ist es ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

      »Jedenfalls habe ich selber herausgefunden, dass ich nur dann nicht an meinen seelischen Schmerzen verzweifele, wenn es nur mich und Gott zu geben scheint. Nichts weiter. Nur dann bin ich von diesem unerträglichen inneren Brennen erlöst.«

      »Dann ist das Gebet, der Besuch des Gottesdienstes wirklich Balsam für deine Seele …«

      »… ja, wie ein Pflaster auf meiner inneren Wunde«, setze ich begeistert den von ihm begonnenen Satz fort. So verstanden zu werden ist auch schon ein Geschenk des Himmels.

      »Der Klosteraufenthalt muss dann ja eigentlich ein Biotop für dich sein, in dem du regelrecht aufblühst – wenn du hin und wieder Pater Jeremias’ Einladung ausschlägst.«

      Ulrich lacht leise.

      »Oh. Habe ich ihn verärgert?« Das wollte ich nicht.

      »Nein, schon in Ordnung, er trägt dir nichts nach. Er hat’s nur nett gemeint. Wir wollen alle, dass du dich wohlfühlst. Jeremias kann ja nicht wissen, dass du lieber für dich bist.« Ich seufze erleichtert. Dann muss ich mir wenigstens darüber keine Gedanken machen.

      »Erzähl ihm bitte auch nichts von diesem Gespräch. Ich möchte, dass unter uns bleibt, was ich mir von der Seele reden musste. Das ist mir wirklich wichtig«, sage ich so flehentlich, dass es mir beinahe unangenehm ist. Aber ich bin es nicht gewohnt, jemandem so tiefe Geheimnisse anzuvertrauen, den ich erst seit wenigen Tagen kenne. Ich will nicht schwach wirken.

      »Keine Sorge, Armin. Ich bin keine Petze.«

      Ein Seufzer tiefer Erleichterung kommt aus meiner Brust. Ulrich findet immer die richtigen, unterstützenden Worte. Welch eine Last ist von meinen Schultern genommen. Ich fühle mich wie befreit, nehme auch meine Umgebung gleich ganz anders wahr.

      Sogar die schwere klösterliche Stille drückt nicht mehr wie bisher auf meine Stimmung. Jene Ängste, die ich loslassen konnte, sind zuerst einmal fort und lauern mir nicht mehr in der Grabesstille der Klostergänge auf. Als habe sich in meinem Geist eine lang geschlossene Tür geöffnet, spüre ich nun, wie diese unerschütterliche Ruhe in mich eindringt und einen besonders weiten und lichten Raum schafft für die Begegnung mit Gott. Jetzt bin ich bereit, einzuschwingen in die gregorianischen Gesänge und den Weihnachtsjubel der Psalmengebete. In den Lobgesängen und biblischen Geschichten erkenne ich einen Spiegel für meine eigenen Gefühle: geklärt, froh und für meine Verhältnisse hoch gestimmt.

      Sich in die Stille zurückzuziehen, im Schweigen zu verharren wird kurz vor Ende meines Besuchs eine zentrale Bedeutung zugemessen. Sogar die alltäglichen Arbeiten werden auf ein Minimum reduziert, um sich auf das Hochfest der Heiligen Drei Könige einstimmen zu können. Mit dem Eintritt in das tiefe Schweigen entledigen wir uns der schnöden Gedanken und kleiden uns in das Gewand, in dem wir uns voller Demut auf die Nähe Gottes vorbereiten.

      Um neun Uhr am Vormittag beginnt das feierliche Pontifikalamt. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass Abt Berthold, der im Rang eines Bischofs der Klostergemeinschaft vorsteht, auch mit den Insignien eine Bischofs ausgestattet ist: die Mitra auf dem Kopf, der Hirtenstab in der Hand und das Kreuz über seiner Brust. Unter aufbrausendem Orgelspiel zieht er vom hinteren Eingang des Kirchenschiffs in die Kirche ein. Ihm voraus die Mönche und Priester. Ich nehme in der vordersten Bank Platz, um die zeremoniellen Handlungen aus nächster Nähe verfolgen zu können. Die erhabene Stimmung hebt mich nicht nur empor und rührt mich zu Tränen, sie lässt mich auch glauben, hier könnte es einen Platz für mich geben. Dies könnte die Gemeinschaft sein, zu der ich gehören will.

      Schweren Herzens packe ich am 7. Januar meine Tasche. Ein letztes Mal gehe ich mit Abt Berthold, dem dynamisch wirkenden Klostervorsteher, zu dem eindrucksvollen Torbogen am Ende des Kreuzganges. Dieses eiserne Gitter trennt den inneren Klausurbereich des Klosters von der Welt. Noch ein Mal erlebe ich, wie der Abt ohne Schlüssel oder sichtbare Drehung des Knaufs den Durchgang öffnet, sodass mit einem lauten Knacken die schwere Tür zur Seite schwingt. »Schön, dass du da warst, Armin. War nett, dich kennenzulernen.«

      »Danke für die beeindruckende Zeit.«

      Abt Berthold nickt freundlich und reicht mir die Hand zum Abschied.

      Dann fällt die eiserne Tür hinter mir ins Schloss. Mir rieselt ein leichter Schauer den Rücken hinunter: Mein beschauliches Leben in der Mönchsklausur ist ausgesperrt.

      Kurz darauf trete ich meine umständliche Heimfahrt an, mit der Bockerlbahn von Metten nach Deggendorf, weiter über Plattling, Regensburg und Schwandorf zurück nach Cham. Die mehrstündige Reise gibt mir ausreichend Zeit, meine abschweifenden Gedanken zu ordnen. Während draußen


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