DER ÜBERHEBLICHE. Dr. Friedrich Bude

DER ÜBERHEBLICHE - Dr. Friedrich Bude


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ostdeutscher Menschen hinter der Mauer den Vorurteilen der Freiheit gewohnten Westlern entgegenstellen.

      Die handelnden Personen während seiner beruflichen Tätigkeit und in der Stasi-Akte werden durch pseudonyme Namen geschützt.

       1. Vater ist tot

      Radabum-radadam, radabum-radadam.

      Es ist kalt im Bummelzug. Eine klare Nacht, der Mond starrt grausam durchs Fenster. 9-jährig sitzt der kleine Frieder mit kurzen Hosen zitternd auf der Holzbank - gegenüber ein Polizist, in dessen Obhut er vom Umsteigebahnhof Falkenberg zurück zu Tante Kläre nach Bad Liebenwerda gebracht wird. Der döst vor sich hin. Im dunklen Abteil, vom Mondlicht beschienen, sah er auch aschgrau, wie tot aus - gruslig!

      Die vergangenen Stunden waren so unwirklich! - Vati soll tot sein? Habe ich tatsächlich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig die Elektrokarre wegfahren sehen? Vorn stand ein „Bahner“ drauf, bediente die Hebel. Hinter ihm die tief liegende Ladefläche mit meinem toten Vati - auf dem Rücken liegend, die Beine auf der Erde schleifend?

      Wie bei einer Schallplatte, deren Nadel in defekten Rillen immer wieder die gleichen Melodiefetzen abspielt, wiederholen sich an seinem geistigen Auge die Bilder des irreal erscheinenden Ereignisses:

      Vati winkt zum Abschied lange mit dem großen Taschentuch am Fenster, bis der Bahnhof mit Tante Kläre nicht mehr zu sehen ist. In Falkenberg wollen sie umsteigen.

      „Wie lange haben wir Aufenthalt?“ fragt Vati einen Mitfahrenden.

      „Nur zwei Minuten! Manchmal ruft der Schaffner schon bei der Einfahrt: Beeilen, der Zug fährt gleich ab.“

      „Mach dich bereit, Frieder, wir müssen schnell machen!“

      Er rennt gleich los. Der einfahrende Zug nach Leipzig rattert schon über ihnen auf den Bahnsteig. Er hastet mit dem Koffer die Treppen hinauf, immer schneller: „Vati, renn nicht so!“ Ich komme gar nicht hinterher.

      Abteiltür aufgerissen, hochgeklettert. Im überfüllten Abteil sagt er: „Mir ist schlecht!“

      Zurück in den langen schmalen Gang bis zum letzten Abteil, dieses ist leer. Er schiebt dort die Tür auf: „Mir ist schlecht!“, hetzt zurück, Ich hinterher, Wagentür auf, die Stufen runter.

      Er schwankt, bleich im Gesicht, erschöpft, mit steifen Knien, jeden Schritt ausbalancierend in Richtung Treppe. Den Koffer in der Hand, den Mantel über dem Arm, lässt beides fallen, sinkt auf die Knie, als wenn er brechen wolle. Es kommt aber nichts. Rafft sich wieder auf, Koffer und Mantel liegen am Boden, dreht sich plötzlich mit letzter Kraftanstrengung zu mir um, quält sich hoch. Mit erhobenen Händen stakst er auf mich zu - mit steifen hölzernen Schritten - immer langsamer, Ich weiche erschrocken aus, - seine Fußspitzen schleifen über das Pflaster – er kippt wie ein abgesägter Baum nach vorn ab, die Hände an der Hosennaht - fällt aufs Gesicht. – ich stehe daneben!

      Der Zug fährt lange, sehr lange an uns vorbei - und Vati guckt nicht mal hin!

      Kein Bahner, kein Sanitäter, nur zwei Leute sind noch auf dem Bahnsteig, als der Zug weg ist. Einer dreht Vati um, öffnet den Hemdkragen, greift ihm an den Hals:

      „Geh mal runter, Kleiner, zur Sanitätsstelle und sag, es möchte jemand hochkommen.“

      Ich, die Treppe hinunter, finde die Rotkreuzbaracke, keiner drin, nur Baugeräte. Da kommt ein Bahner:

      „Ich soll einen Sanitäter holen, oben liegt jemand, mein Vati!“

      Sie gehen zum Hintereingang, auch dort ist keiner. Man schickt mich ins Büro der nächsten Baracke. Dort sage ich wieder, dass mein Vati oben auf dem Bahnsteig liegt… und muss noch mal zum Sani-Gebäude:

      „Es muss einer dort sein!“ - War aber wieder keiner da! Zurück ins Büro, jetzt sind sie zu dritt.

      „Mein Vati liegt oben auf dem Bahnsteig, in der Sanitätsstelle ist niemand!“

      Einer telefoniert - sagt dann: „Ja hier oben liegt einer, der ist tot. Geh nur wieder rauf, es kommt gleich jemand.“

      Männer kommen mit einer Trage, legen Vati drauf, wollen ihn in einen Keller tragen, kommen mit Tragebahre nicht um die Ecke, stellen diese mit Vati in einen Lagerraum. Ich immer dabei. Polizisten mit Hund, dann kommt der Arzt, mit hellem Mantel. Betrachtet Vati - dessen offene Augen - streicht mit der Hand übers Gesicht, da waren sie zu, gibt mir die Hand und geht.

      Vati sieht bleich und fremd aus - nicht wie mein Vati.

      Man fragt, wo ich hingebracht werden will: „Zurück zu Tante Kläre.“

      „Später sehe ich die bewusste Elektrokarre mit Vati fahren. Die Schienen trennen uns. Im dusteren Licht zerhacken die Säulen bei der Fahrt von einem zum anderen Ende des Bahnsteiges den sich als Schatten abzeichnenden Körper, die Füße, welche auf dem Boden schleifen!“

      Immer wieder rollt der gleiche Gedankenfilm ab:

      Der Bahnmann thront vorn auf der Elektrokarre, die Hände am den lenkenden Bediengriffen. Die dunkle liegende lange Gestalt, fast schwarz gegenüber dem Abendlicht, deren abgewinkelten Beine am Ende der Ladefläche bei jeder Unebenheit das Pflaster streifen, das Zwielicht der kargen Deckenleuchten und der Dämmerung im Hintergrund mit dem Aufblinken der Totenlade bei ihrer Fahrt zwischen den Stützpfeilern der jetzt tiefschwarzen Überdachung - ein ständig zurückkehrender bildhafter Alptraum.

      Der 10-jährige Frieder durfte das erste Mal mit der Bahn von Schmölln, allein mit Vati, dessen Basen und Vettern in Bad Liebenwerda besuchen. Die große V erwandtschaft seiner Großmutter Ernestine, geb. Hübner, hatte dort das städtische Tischler-Monopol. Es gab drei Hübner-Tischler. Auch die Großmutter heiratete einen Tischlermeister, Robert Bude aus Schönborn/Brandenburg. Er gründete seine Tischlerei in Schmölln/Thüringen am Bahnhofsplatz. Sie arbeitete anfangs im städtischen Zeitungsverlag auf der gegenüber liegenden Bahnseite als Redakteurin. Kein Wunder, dass Vater in Liebenwerda sein Furnierholz für die Werkstatt einkaufte.

      Hinter des Onkels Garten fließt ein schlammiger Bach. „Mein jüngerer Cousin zeigte mir, was man mit den Zehen im Bachgrund wühlend erfühlen, ans Ufer bugsieren konnte. Zwei äußere ovale Scheiben mit etwas Schwabbeligem dazwischen, Muscheln. So was hatte ich noch nie gesehen. Das machte Spaß.“

      „Auch wenn wir im Kinderzimmer herumtollten. Seine größere Schwester balgte mit. Ich hätte sie auch gern mal angefasst, traute mich aber nicht. Ein komisches, noch nicht gekanntes Gefühl kam bei diesem Gedanken auf.“

      Der Urlaub war schön. Frieder durfte mit Tante Kläre im Zug nach Kreischa fahren, im großen Baggersee baden.

      Radabum-radadam, jetzt sitzt ein Polizist ihm gegenüber im kalten Abteil, der grelle Vollmond beleuchtet unwirklich sein schlafendes Gesicht, maskenhaft weiß schimmert es in kalten Lichtstrahlen der gelben Himmelsscheibe. Der Schrecken überzieht seine Arme und Beine mit Gänsehaut.

      Erst auf Tante Kläres kuscheligem Sofa - endlich allein - kann Frieder weinen, den erlebten Schock, irreal, wie in einem Kinofilm, begreifen.

      29.8.50, Kriegstagebuch der Großmutter

      Emstine Bude:

      „Ein Marmorkränzchen im Strauchwerk versteckt, ein Hügel mannshoch mit Blumen bedeckt darunter mein Junge, den keiner mehr weckt. Kein Kindslachen, kein zärtliches Wort aus Frauenmunde beglückt ihn hinfort.

      Von Bruders Lippen kein froher Scherz, nichts rührt mehr an das stille Herz.

      Die Hand, die die seinen so treu umhegt sich nie mehr warm in die meine legt.

       Und doch hör ich oft seine lieben Schritte, er weilt doch immer in unserer Mitte.“

      Ab jetzt war alles anders!

       2.Rückblende

      27.05.1940 Kriegstagebuch Ernstine Bude:

      Heute wurde Fritz Bude ’s Abend 9 Uhr unter Blitz u. Donner ein kleiner Junge


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