Das Labyrinth erwacht. Rainer Wekwerth
zu verwischen, ihre Sinne zu täuschen. Aber wie?
Sein Blick schweifte umher. Ein Blitz erhellte den Himmel für einen Sekundenbruchteil.
Da. Gar nicht so weit entfernt, zeichnete sich ein Wald vor dem dunklen Horizont ab. Dort wäre er nicht so leichte Beute. Sie würden ihn nicht so schnell finden können, vielleicht sogar seine Spur verlieren. Er entblößte die Zähne zu einem entschlossenen Grinsen.
Ich werde diese verfluchten Biester abhängen.
3.
León hatte sich aufgerichtet und blickte sich um. Gras, so weit das Auge reichte, lediglich in einer Richtung zeichnete sich ein dunkler Wald ab.
Qué pasa? Wie bin ich hierhergekommen?
Er blickte an seinem nackten Körper hinab. Blauschwarze Figuren mit Flügeln, Totenschädel, jede Menge Buchstaben, die er nicht lesen konnte, Verzierungen, geometrische Formen. Seine Arme, Beine, der ganze Oberkörper, alles war von diesen mysteriösen Zeichen bedeckt. Er spuckte auf den Arm und versuchte, eines der Bilder abzureiben. Vergeblich. Die Dinger waren in seine Haut eingestochen.
Ob mein Gesicht ebenfalls voll damit ist?
Es gab keine Möglichkeit, das zu überprüfen.
Mierda! Ist das jetzt gut oder schlecht für mich?
Da die Bilder schon teilweise verblasst waren, konnten sie nichts Schlimmes bedeuten. Außerdem schmerzten und juckten sie nicht, wahrscheinlich trug er sie schon lange. Er fuhr sich mit der Hand über Nase und Wangen, dann über seinen Kopf. Seine Haut war völlig glatt. Unversehrt.
Er schaute erneut an sich herab und grinste. Na wenigstens eine Stelle war nicht von diesen… Tätowierungen!!!… bedeckt.
Ein kalter Windhauch erfasste ihn. In der Ferne braute sich ein gewaltiges Gewitter zusammen und er stand splitternackt an einem unbekannten Ort.
Plötzlich durchbrach ein Lichtstrahl die Wolkendecke und ließ etwas im Gras schimmern. Neugierig ging León darauf zu.
Ein Rucksack mit Kleidung, die er sofort anzog. Ein Schlafsack. Er fand ein großes Klappmesser, dessen Klinge unglaublich scharf war, nachdem er herausgefunden hatte, wie man es öffnete.
Gut, dachte er, wenigstens bin ich nicht wehrlos.
Er schob gerade das Messer in die Hosentasche, als ein Geräusch ihn herumfahren ließ.
Nicht weit von ihm entfernt standen ein Junge und ein Mädchen und blickten ihn an. Sie trugen ähnliche Kleidung wie er. Der Junge war fast einen Kopf größer als er selbst. León ließ seinen Blick an ihm hinabgleiten. Der Junge strahlte Kraft und Ruhe aus, auch wenn er im Moment gehetzt wirkte. León erkannte instinktiv, dass er es mit jemandem zu tun hatte, den man nicht unterschätzen durfte.
Das Mädchen hatte ein hübsches Gesicht und Lippen, die wie geschaffen für ein strahlendes Lächeln waren. Aber im Moment lächelte das Mädchen nicht. Ihr schlanker Körper war genauso angespannt wie ihre Mimik und plötzlich verstand León auch, warum die beiden ihn misstrauisch anstarrten und nicht näher kamen.
Ich bin also auch im Gesicht tätowiert. Wahrscheinlich sehe ich für sie wie ein Monster aus.
León fluchte innerlich, dann streckte er beide Arme aus, drehte die Handflächen nach oben und zeigte ihnen, dass er unbewaffnet war und nichts Böses im Sinn hatte. Er ging ihnen ein paar Schritte entgegen.
Das Mädchen zögerte, aber der fremde Junge machte ebenfalls ein paar Schritte auf ihn zu. Er lächelte nicht, wirkte aber freundlich. Er hob die Hand zum Gruß.
»Ich bin Jeb. Das ist Jenna.«
»Mein Name ist León.«
Er wusste zwar nicht, wo er war, aber er musste nicht darüber nachdenken, wer er war. Umso überraschender waren für ihn Jebs nächste Worte.
»Wir haben dich gesucht.«
Jeb hatte sich neben León ins Gras gesetzt. Jenna gab León schüchtern die Hand, bevor sie ihren Rucksack auf dem Boden ablegte. Sie hatten seit geraumer Zeit nichts mehr von dem, das sie verfolgte, gehört. Dies war eine gute Gelegenheit, kurz Kraft zu schöpfen.
Jeb hatte die Beine im Schneidersitz überkreuzt. Interessiert sah er León an. An den nackten Knöcheln des anderen – er trug keine Socken – schlängelten sich Bilder entlang, wuchsen aus den Ärmeln seines Hemdes heraus und zogen sich bis über den Schädel. Die Bilder sahen beängstigend aus, abschreckend – und auch faszinierend. Was sie wohl bedeuteten?
Jeb räusperte sich. »Du hast keine Haare und ehrlich gesagt, siehst du ein wenig merkwürdig aus, mit all den Bildern im Gesicht und auf deinem Schädel.«
León grinste ihn an. »Das sind Tätowierungen, mein ganzer Körper ist voll davon.«
Jeb dachte über das neue Wort nach. »Was bedeuten sie?«
»Ich kann mein Gesicht nicht sehen, wie sieht es denn aus?«
»Du weißt nicht, wie dein Gesicht aussieht?«, fragte Jeb verblüfft. Erst jetzt bemerkte er, dass er eine genaue Vorstellung davon hatte, wie er selbst aussah.
»Nein, keine Ahnung.« León wirkte verärgert. Seine Körperhaltung drückte Anspannung aus. Er hatte die Mundwinkel zurückgezogen, die Zähne fest aufeinandergepresst.
»Hey«, meinte Jeb beschwichtigend. »Cool bleiben. Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen. Ich war nur ein wenig überrascht. Jede Information könnte wichtig sein, wenn wir hier überleben wollen.«
León entspannte sich wieder, aber sein Tonfall blieb hart. »Was quatschst du da, compadre?«
Jeb ließ sich von León nicht verunsichern und erwiderte ruhig: »Weißt du, wo du bist? Was dich hierher verschlagen hat? Warum du da bist? Weißt du, wie du wieder nach Hause kommst?« Er machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter. »Kennst du dein früheres Leben? Die Gefahren, die hier auf dich lauern? Willst…«
»Ist ja gut«, unterbrach ihn León. »Ich kapiere, was du mir sagen willst. Und die Antwort ist Nein. Nein, ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wie ich hierhergekommen bin. Ich habe auch keine beschissene Vorstellung davon, wer ich eigentlich bin, aber du siehst so aus, als ob du mich darüber aufklären kannst, was das alles hier bedeutet. Also, warum habt ihr mich gesucht?«
Jeb warf einen Blick zum immer finsterer werdenden Horizont, dann spähte er über die Grasebene hinter ihnen. Im Moment war nichts zu hören, aber das musste nicht bedeuten, dass nicht etwas da draußen auf sie lauerte. Sie mussten weitergehen. Abrupt stand er auf.
»Das werde ich dir unterwegs erklären.«
Der tätowierte Junge starrte ihn misstrauisch an.
»Unterwegs?«, wiederholte er.
»Ja, wir müssen weiter. Hier sind wir nicht sicher – etwas ist hinter uns her«, setzte Jeb vorsichtig nach. Bei diesen Worten erhob sich auch Jenna.
León blieb sitzen und blickte sich gelassen um. »Wer jagt uns und warum?«
Jeb spürte, wie er unruhig wurde. Wie sich die Haut über seinen Wangen spannte. Sie vertrödelten hier kostbare Zeit – wie vorhin schon.
»Es ist, wie es ist. Du kannst uns glauben oder es lassen, das ist mir scheißegal«, knurrte er und wandte sich um. Angespannt betrachtete er den Horizont. »Wir gehen jetzt weiter, mach, was du willst.«
»Wie hast du vorhin so schön gesagt? Cool bleiben! Ihr erzählt mir eine Haufen merkwürdiger Dinge und seid dann überrascht, wenn ich nicht gleich alles schlucke und euch brav hinterherlaufe?« León erhob sich geschmeidig, ließ seine Wasserflasche liegen und spuckte neben sich ins Gras. »Mann, ich bin gerade aufgewacht. Splitterfasernackt. An einem Ort, an dem ich noch nie war, und kann mich nicht daran erinnern, wer ich bin. Ja, ich weiß nicht einmal, wie ich aussehe, dann kommt ihr zwei dahermarschiert. Euch kenne ich auch nicht und ihr erzählt mir irgendetwas von einer Verfolgung. – Meinetwegen glaube ich euch. ABER ich habe auch jede Menge Fragen.«